Literarische Vermessung der Welt | Aleš Šteger: Logbuch der Gegenwart | Besprechung
von IKGS München
Für „Aufgehen“, den dritten und letzten Teil seiner „Logbuch der Gegenwart“-Reihe, hat sich Aleš Šteger noch einmal vier besonderen Orten in vier verschiedenen Ländern jeweils für zwölf Stunden ausgesetzt und seine Eindrücke aufgeschrieben. Es geht ihm um das Vermessen, um das Festhalten eines flüchtigen Zustands in einer sich immer schneller wandelnden Welt. Die Ergebnisse sind so vielschichtig und unterschiedlich, wie es die Menschen dieser Erde sind.
27. September 2024
Aleš Šteger: Logbuch der Gegenwart. Aufgehen. Aus dem Slowenischen von Matthias Göritz. Mit einem Vorwort von Carolyn Forché. Innsbruck, Wien: Haymon Verlag 2024. 157 S.
„Es ist ein Projekt des Geistes und des Bewusstseins, aber auch eines über den Zustand des Menschen“, schreibt Carolyn Forché in ihrem Vorwort. (S. 7) „Es ist kein Geheimnis, dass wir im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts eine gewisse Vorahnung haben. Diese Vorahnung ist ein Leitgedanke dieses Werks, ebenso wie menschliches Mitgefühl, Wachsamkeit, Scham, Neugier, Einsamkeit und der Wunsch, die Welt so zu sehen, wie sie tatsächlich ist.“ (S. 7) Den ersten beiden Logbuch-Bänden – Taumeln und Aufbrechen (siehe Spiegelungen 2.20) – folgt nun also Aufgehen, und der Autor setzt darin bravourös um, was er quasi programmatisch so formuliert hat: „Das Logbuchprojekt versucht, literarisch mit Unmittelbarkeiten und dem reinen, pulsierenden Leben zu arbeiten. Es lebt von der Sprache“. (S. 157) Oder auch, in anderen Worten: „Das Logbuch war immer ein Versuch, den unverständlichen Sprachen der Welt zu lauschen. Und gleichzeitig auch ein Versuch, sich abzulenken, denn wo es Sprachen gibt, gibt es keine Einsamkeit“. (S. 136)
Der galicischen Costa da Morte und dem weltbekannten Wallfahrtsort Santiago de Compostela gilt das erste, auf den 3. Oktober 2021 datierte Kapitel, dem – wie den folgenden – originelle, melancholische, oft verträumte Fotografien beigegeben sind, meistens in Farbe. Die Idee dazu sei ihm gekommen, als er „die massive Ausbreitung der Markierungen des Jakobswegs in Slowenien und anderswo in Europa“ (S. 39) wahrgenommen habe. Anders als im Mittelalter wanderten heute nicht mehr nur Gläubige auf dem „Camino de Santiago“, und dennoch bleibe der Weg für die meisten Reisenden mit ihrer Spiritualität eng verbunden. „Alle Wege führen nach Rom“, schreibt Šteger. „Daher kommt das Wort ‚Pilger‘ (romar) in meiner Sprache. Oder sie führen nach Jerusalem. Tatsächlich aber führen seit mindestens einem halben Jahrhundert alle Wege nach Compostela.“ (S. 28) Auf dem Pflaster vor der Kathedrale sei eingraviert, „dass Europa auf dem Pilgerweg nach Santiago entstanden ist“. (S. 32) Die Existenz dieses Europa und seiner Geisteswelt allerdings sei, wie Šteger in allen seinen Logbüchern betont, stark gefährdet. „Ich bin ein Mensch, und das bedeutet, dass ich in all den Jahrtausenden wirklich nichts, nichts, nichts, absolut nichts gelernt habe. Die Selbstzerstörung wird mit den Fortschritten der Zivilisation nur noch stärker.“ (S. 42f.) Nicht allen Zeitgenossen würden die meist mehr als tausend Kilometer auf dem Camino wirklich helfen oder gar zu einer fundamentalen Umkehr ihres Lebenswandels beitragen. „In Santiago enden alle Wege, und Spiritualität ist nicht mehr nötig.“ (S. 53)
Am 31. Januar 2022 besucht Šteger Punta Arenas und Porvenir an der Magellanstraße, im äußersten Süden Lateinamerikas. „Der Wind ist der Herrscher.“ (S. 62) Selbstverständlich geht er auf den Friedhof von Punta Arenas, den Bruce Chatwin in seinem Patagonien-Buch als einen der schönsten in diesem Teil der Welt bezeichnet hat. Zu den Teilnehmern der dort noch heute allgegenwärtigen Magellan-Expedition gehörte ein gewisser Antonio Pigafetta, dessen Mitschriften „ein Vorläufer des dokumentarischen Fernsehens“ gewesen seien und möglicherweise die „Hauptinspiration für Shakespeare“ beim Verfassen seines Sturm (S. 69) – Felicitas Hoppe hat ihm 1999 einen Roman gewidmet. Doch Šteger ist kein Historiker, sondern ein Gegenwartsautor auf der Höhe der Zeit. „Was immer ich als Dichter mache, ist nicht vom Politischen getrennt. Alles ist Teil eines großen Ganzen.“ (S. 85). Folglich stellt er unüberlesbar heraus, was europäische Eroberer an der Südspitze des Kontinents angerichtet haben: „Genozid. Der Verlust von indigenem Wissen und ihrer Kultur kann für den Menschen fatal sein“. (S. 82) Das mag inzwischen allgemein bekannt sein – der Autor weist dennoch immer wieder auf die Wunden hin, die der europäische Imperialismus hinterlassen hat. Ja, Aleš Šteger ist ein tendenziell kulturpessimistischer Schriftsteller – aber ist er nicht genau deshalb auch ein politisch hellwacher Realist?
Am 17. November 2022 ist der Autor in Hargeisa in Somaliland an der Ostspitze Afrikas, einem Staat, der als solcher international nicht anerkannt ist. „Die Menschen in Somaliland sehen ihr Land als Land der Dichter. Ihre Kultur und Vergangenheit werden durch eine reiche mündliche Tradition bewahrt, die sich in einer Zeit, in der jeder ein Smartphone besitzt, dramatisch verändert.“ (S. 91) Dieses Somaliland ist ein ausgesprochen schwieriges Reiseziel, über dessen jüngere Geschichte, die vor allem durch blutige Konflikte mit den Soldaten des somalischen Diktators Mohamed Siad Barre geprägt wurde, wir viel erfahren – meist traurige Geschehnisse, die dem gewöhnlichen Mitteleuropäer weitgehend unbekannt sind. Dennoch: „Ich verstehe nichts“. (S. 95) Das bezieht sich nicht nur auf die Sprache, sondern ganz generell auf den Alltag, den Šteger allerdings sehr genau beobachtet. Was er sieht, ist großenteils aus der Not geboren – und kann trotzdem nachdenklich machen: „Nur das zu besitzen, was man unbedingt braucht, was man jeden Tag benutzt. ‚Naamuurad‘, so nennen sie alles Unnötige, machen es lächerlich, werfen es schnell weg“. (S. 102) Die Sprache, die Poesie erscheint dem Besucher hier als Überlebensmittel, ganz im Sinne einer „littérature engagée“: „Poesie als ein Denkmal des Widerstands, der Beharrlichkeit, der Schärfe. Es ist das zerschundene Fleisch ihres Volkes“. (S. 119)
Die letzte literarisch festgehaltene Reise vom 2. April 2023 führt Aleš Šteger nach White Sands im US-Bundesstaat New Mexico, wo am Morgen des 16. Juli 1945 unser Atomzeitalter begann und wo heute „paradoxerweise ein Nationalpark und Amerikas größtes Testgelände für ballistische Raketen nebeneinander bestehen“. (S. 126) Warum White Sands? „Wir wissen nicht, wie das Licht in die Welt kommen wird, aber es ist unvermeidlich. Denn alles, was sein wird, ist bereits geschehen, und deshalb ist das Erscheinen des Verborgenen notwendig, da es Teil unserer Vergangenheit ist.“ (S. 126) Das Licht in der Gipswüste von White Sands sei unfassbar rein und klar, und der Ursprung menschlicher Existenz werde dadurch deutlicher als irgendwo sonst auf der Welt: „Ich spüre, dass ich einst Teil dieser Wüste war“. (S. 138) Ob dies auch J. Robert Oppenheimer spürte, der Leiter des die Welt verändernden Manhattan-Projekts, über das der Autor immer wieder nachdenkt? „Oppenheimers Charakter ist der eines gefallenen Menschen, der einen Golem geschaffen hat, den er nicht kontrollieren kann.“ (S. 143) Am Ort einer Atomexplosion sei absolut nichts zu sehen, und dennoch pilgerten zahlreiche Touristen, oft beseelt von einem merkwürdigen und nicht wirklich zu verstehenden Nationalstolz, zu dem dort errichteten Obelisken und dem eher makabren „Plutonium Assembly Room“. Für Aleš Šteger ist White Sands eine Art Kristallisationspunkt der Weltgeschichte: „Hiroshima ist hier. Nagasaki ist hier. Und die Sonne ist hier“. (S. 150)
Aleš Šteger, 1973 in Ptuj geboren, ist der bekannteste Schriftsteller Sloweniens. Der für seine Gedichte, Prosatexte und Essays vielfach ausgezeichnete Dichter, der nebenher aus dem Deutschen, Englischen und Spanischen übersetzt, ist auch in Deutschland und Österreich kein Unbekannter. Sein jetzt abgeschlossenes Logbuch-Projekt beweist einmal mehr, dass seine poetischen Wortmeldungen im Konzert europäischer Stimmen unverzichtbar sind.
Von Klaus Hübner