Spiegelungen
,,Meine Narben sind politische Phänomene.“ Gábor Schein im Gespräch
Mit dem Budapester Autor und Literaturwissenschaftler Gábor Schein, der vom November 2023 bis Mai 2024 IKGS-Fellow war und in den aktuellen Spiegelungen mehrere Texte veröffentlicht hat, sprach Enikő Dácz über seine literarische Tätigkeit. Schein reflektierte seinen Umgang mit unterschiedlichen Traditionen und bezog sich auf seine auf Deutsch vorliegenden Romane „Der Schwede“ und „Lazarus“. Bezüglich der Suche nach neuen Erzählweisen, die diese Texte auch prägen, zeigte er auf, wie der Humor einen Ausweg aus dem Dickicht der Erzählungen bieten kann und ging auf die Illusionslosigkeit in seinem letzten Lyrikband „Ó, rinocérosz“ [„Oh, Nashorn“] ein.
Erhöhte Reichweite | Ján Rozner: Seven Days to the Funeral | Besprechung
Nun verlässt ein beachtenswertes literarisches Werk den relativ kleinen tschechisch-slowakischen Sprachraum, dessen jüngere Geschichte es implizit auch behandelt. Leider erreicht es nicht direkt unsere deutschsprachige Sphäre, die bereits weiträumiger als der ursprüngliche Sprachraum wäre und die auch Bezug zum Autor bedeutete. Aber, und dies ist ein großer Trost, es betritt die Weltbühne des Englischen, das uns ja geläufig wurde ‒ und zwar des britischen Englisch, womit es seine europäische Heimat nicht verleugnet. Es wurde weltläufig und kann auf dem gesamten Globus gelesen werden.
Raum für Poesie | Hellmut Seiler: Wolfsberg oder Die Tiefe der Stille | Besprechung
Hellmut Seiler erhielt heuer den Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturpreis. Man zeichnete ihn, wie es in der Verleihungsurkunde heißt, „als luziden, mutigen und unbestechlich gesellschaftskritischen Lyriker aus, als virtuosen Meister des doppelbödigen Wortspiels in aphoristisch pointierten Mitteilungen über die Absurdität des Alltags jenes diktatorischen Systems“.
,,Es war, und es war nicht“ | Iris Wolff: Lichtungen | Besprechung
Klappern gehört zum Handwerk, und der Literaturbetrieb mit all den Veranstaltungen, Verlautbarungen und Veröffentlichungen jenseits der eigentlichen Texte hört sich fürwahr schon aus der Ferne wie ein Handwerksbetrieb an. In dessen sekundärer Betriebsamkeit findet das Primäre, Werkstoff und Erzeugnis, Sprache und Text, umso weniger Beachtung. Man mag sagen, das sei eben der Lauf der Welt in ihrem medienorchestrierten Taumel, man muss sagen, das sei nichts als recht und billig, wenn man sich die oft wohlfeilen Produkte anschaut. Umso mehr darf man sich freuen, wenn man eines in die Hand bekommt, bei dem man nichts zu sagen braucht, weil es selber für sich spricht. Zu besprechen gibt es dafür erfreulich viel.
Literarische Vermessung der Welt | Aleš Šteger: Logbuch der Gegenwart | Besprechung
Für "Aufgehen", den dritten und letzten Teil seiner "Logbuch der Gegenwart"-Reihe, hat sich Aleš Šteger noch einmal vier besonderen Orten in vier verschiedenen Ländern jeweils für zwölf Stunden ausgesetzt und seine Eindrücke aufgeschrieben. Es geht ihm um das Vermessen, um das Festhalten eines flüchtigen Zustands in einer sich immer schneller wandelnden Welt. Die Ergebnisse sind so vielschichtig und unterschiedlich, wie es die Menschen dieser Erde sind.
Das Heimweh der Heimatlosen | Jan Koneffke: Im Schatten zweier Sommer | Besprechung
Schicksal oder Zufall? Ein großer Erzähler trifft auf einen anderen, der mit seinen „Opowieści, Maises und Kaskalim aus seiner Kindheit in Brody“ (S 236) – so nennt man Geschichten in Galizien – sein Umfeld begeistert. Die kurz gefasste Erläuterung dieser sonderbaren Begegnung ließe sich ungefähr so zusammenfassen: Nach einigen Wanderjahren lässt sich der in Darmstadt geborene Schriftsteller Jan Koneffke mit seiner aus Rumänien stammenden Frau in Wien nieder und entdeckt, dass in dem Wiener Haus, in dem er wohnt, einst Joseph Roth als Untermieter bei einer Familie gelebt haben soll. Das Quartier in der Rembrandtstraße 35 im jüdischen Viertel zwischen Augarten, Prater und Donaukanal war Roths „erste Meldeadresse“ (S. 295), wie Koneffke in seinem Nachwort anmerkt. Es kommt, wie es kommen muss: „Der Zufall setzte meine Fantasie in Gang“. (S. 295)
Imperiale (In)Toleranz im 19. Jahrhundert: Osmanisches Reich und Habsburgermonarchie
1839 leitete das Gülhane-Dekret die Tanzimat-Reformzeit im Osmanischen Reich ein. Es garantierte die Unversehrtheit von Leben und Besitz sowie Religionsfreiheit. Das Dekret bewog Deutsche aus dem Russländischen Reich zur Migration in die osmanische Dobrudscha. Fast zeitgleich wiesen die Habsburger Protestanten aus dem Tiroler Zillertal aus, die nicht katholisch werden wollten. Sie fanden im preußischen Niederschlesien eine neue Heimat. Der Beitrag von Tobias Weger anlässlich des 185. Jahrestags dieses grundlegenden staatsrechtlichen Dekrets regt dazu an, stereotype Bilder von toleranter und intoleranter Herrschaft im 19. Jahrhundert zu überdenken. © Foto: Wikimedia Commons
Die Wächter der Wurst und die Hüter der Hühnersuppe. Kampf um Nationalgerichte in Social Media Gruppen
Als Mensch, der in verschiedenen Ländern gelebt hat, genieße ich es, die kulinarischen Traditionen all jener Orte zu vermischen, an denen ich zu Hause bin oder die ich wiederholt besucht habe. In meiner Küche koexistieren amerikanische Bagels und Bananenbrot friedlich mit ungarischer Pogácsa, schwäbischen Spätzle und bosnischer Krompiruša. Zu den Grundnahrungsmitteln, die in meiner Speisekammer jederzeit zu finden sind, gehören niederländischer Pindakaas (Erdnussbutter) und Hagelslag (Schokostreusel), die kroatische Gewürzmischung Vegeta, ungarisches Paprikapulver und istrisches Olivenöl. Und bevor Sie mich der kulinarischen Aneignung beschuldigen, sollte ich mitteilen, dass ich zu all den Kulturen, deren Gerichte ich regelmäßig koche, längere Zeit Kontakt hatte und die meisten Rezepte von Einheimischen gelernt habe.
The Guardians of Goulash. The Battle around National Dishes in Social Media Groups
As someone who has lived in various countries, I enjoy blending the culinary traditions of all the places I have called home or have visited repeatedly. In my kitchen, American bagels and banana bread coexist peacefully with Hungarian pogácsa (a savory baked treat), Swabian spätzle (dumplings) and Bosnian krompiruša (phyllo pastry with potato filling). Staples to be found in my pantry at any given time include Dutch pindakaas (peanut butter) and hagelslag (chocolate sprinkles), the Croatian spice mix Vegeta, Hungarian paprika powder and Istrian olive oil. And please do not accuse me of culinary appropriation: I have had extended contact with all the cultures whose dishes I regularly cook, having learned most of the recipes and techniques from natives.
Migrantische Monster | Barbi Marković: Minihorror | Besprechung
Nachdem ich vor kurzem „Die verschissene Zeit“ gelesen hatte, war ich neugierig, welche Haltung zur Literatur Barbi Marković im vorliegenden Buch einnimmt. Gestützt auf die vorherige Erfahrung begann ich, das Buch durchzublättern. Und da war es ‒ ein Schritt außerhalb der Literatur, eine Verlockung jenseits des gewöhnlichen Erzählens. Als Bonusmaterial gibt es eine Gastgeschichte, ein Party-Brettspiel und eine Reihe möglicher, noch nicht erzählter Geschichten über die Hauptprotagonisten. In den achtundzwanzig geschriebenen und einhundertfünf potenziellen (Mini-)Geschichten über den alltäglichen Horror des bekannten (celebrity?) Paares Mini und Miki macht uns Barbi Marković klar, dass Monster unter uns sind.
Wohltemperierte Unwägbarkeiten | Nichita Danilov: Die blinden Adler. Gedichte | Besprechung
Nichita Danilov ist einer der bedeutenden Lyriker der sogenannten 80er-Generation in Rumänien, einer Literatengruppe, zu der unter anderen auch Mircea Cărtărescu zählt. Doch ist Danilov nicht wie sein international gefeierter Kollege ein Hauptstädter, sondern stammt aus der Grenzregion Nordrumäniens und der heutigen Republik Moldau. Laut Nachwort seines Übersetzers und Kollegen Jan Koneffke zeigt sich diese Herkunft im Wesen des danilovschen Schreibens; er ist „Lipowaner“ und ein Mann des Dazwischen: zwischen Russland und Rumänien, Ruralität und Akademie, Glaube und Skepsis…
Da capo al fine | László Végel: Balkanschönheit oder Schlemihls Bastard | Besprechung
Lang ist es her, seit der eine oder andere Schlemihl der Literaturszene Rätsel aufgab! Nun ist endlich wieder einer da. Skurril auch er. Ein Eigenbrötler, der mit einer positiven Lebenseinstellung überrascht: „Ich bin glücklich, solange ich überflüssig bin. Ich sitze in der Werkstatt, was ich von Großvater gelernt habe, können sie mir nicht nehmen, ich habe von allem Ahnung, bin ein Universalhandwerker, ich repariere Fahrräder, Bügeleisen, Tiefkühlschränke, ich verrichte meine Arbeit, sollen sie doch ruhig über mich verbreiten, dass ich ein Hanswurst und Taugenichts bin […] sollen sie sich nur das Maul zerreißen“. (S. 155)