Die Frage nach dem Erzähler | Drago Jančar: Als die Welt entstand | Besprechung
von IKGS München
Der vorliegende Roman, im Original „Ob nastanku sveta“, stammt aus der Feder des meist übersetzten zeitgenössischen slowenischen Schriftstellers Drago Jančar (* 1948) und ist 2023 in der Übertragung von Erwin Köstler im Paul Zsolnay Verlag in Wien erschienen. Die Handlung spielt in Maribor (dt. Marburg an der Drau), der Geburtsstadt des Autors, und thematisiert die Liebe, wie bereits die Romane „Wenn die Liebe ruht“ (2019) und „Nordlicht“ (1990).
27. Februar 2025Drago Jančar: Als die Welt entstand. Roman. Aus dem Slowenischen von Erwin Köstler. Wien: Zsolnay 2023. 272 S.
Jančar lässt in seinem historischen Roman keine bekannten Akteure der Geschichte als Figuren auftreten, sondern die Menschen am Rande. Wie auch für seine anderen Romane bezeichnend, ist man trotz der spielerischen Erzählweise und der poetischen Sprache doch mit der Realität konfrontiert, dass das Ende des Krieges den Anbruch einer neuen Zeit mit sich brachte und vor allem die Menschen grundsätzlich veränderte.
Das Erzählen läuft für Jančars Prosa charakteristisch geschmeidig, ohne äußere Unterbrechungen wie etwa Kapitel. Der Roman ist als ein großer Rückblick aus dem fiktiven Jetzt konzipiert, also eine Erinnerung des heute älteren und erfahreneren Haupterzählers Danijel: „Damals habe ich nicht verstanden, sagt Danijel […]. Heute verstehe ich, was los war“. (S. 148) Die Erzählsituation ist sehr komplex, denn über das vergangene Geschehen wird in fragmentarischer Form anhand Erinnerungen, Szenen, Bibelauszügen, Zeitungsausschnitten, Gedankenräuschen und Träumen des Haupterzählers im Dialog mit einem unbekannten Gesprächspartner berichtet. Der Erzähler Danijel ist ein wissbegieriger und außergewöhnlicher Junge, denn „er ist ein Seher“ (S. 191) der zerrissenen Welt, die um ihn entsteht. Von der Mutter wird er gezwungen, heimlich den Religionsunterricht zu besuchen, und vom Vater muss er sich die Kämpferbundgeschichten und Verehrung der neuen kommunistischen Ideologie anhören. Die Zerrissenheit der Gesellschaft der Nachkriegszeit wird auf die Eltern, das heißt auf die kleinste Zelle der Gesellschaft übertragen. Dabei tritt ein weiterer, allwissender Erzähler auf, der zur Vervollständigung des Erzählten beiträgt und die Psyche des Nachkriegsmenschen, die eine antithetische Natur annimmt, darstellt: „Sie waren gute Leute, fröhliche. Aber manchmal auch schreckliche. […]“. (S. 36) Die Figuren, die den Erzähler umgeben und über deren Schicksal Danijel berichtet, sind die neuangekommene Nachbarin Helene beziehungsweise Lena, Danijels Eltern, Vaters Kämpferbundkamerad Pepi, der notorische Ljubo, Pater Aloisius, Professor Fabjan, Danijels Halbbruder David, die deutsche Nachbarsfamilie Rainer, Danijels Mitschülerin Vasilka und der große, geistig gestörte Junge namens Malček [Knirps] – jeder von ihnen beeinflusst und verändert die Welt von Danijel. Während Pepi als Pantoffelheld, Ljubo als „Bad Boy“-Archetyp, Danijels Mutter als andächtige Frau und Malček als Sonderling auf der Figurenebene wirken, sind die restlichen Figuren weitgehend komplexer gestaltete Charaktere, die jeweils eine Gesellschaftsgruppe der Einwohner im Maribor der Nachkriegszeit repräsentieren, zum Beispiel Partisanen, Deutsche, Deutschtümler und Zuwanderer aus dem Küstengebiet und aus den ruralen Gebieten.
Das Geschehen schreitet zuerst etwas zögerlich voran und macht den Leser leicht ungeduldig. Die eigentliche Handlung beginnt mit Danijels Entdeckung, dass die von ihm beobachtete und verehrte neue Nachbarin Lena einen Liebhaber in ihre Wohnung im Erdgeschoss hereinlässt. Die aus einem Kärntner Dorf stammende junge Sekretärin bezaubert Danijel mit ihrem Aussehen, ihren häuslichen Fertigkeiten, dem Bücherlesen und der Nächstenliebe. Problematisch aber findet er neben ihrer Liebhaberwahl – dem tollpatschigen Pepi – vor allem ihren tiefen Glauben an Gott und die Orientierung an der Weisheit des Herzens. Der zuerst gehasste Liebhaber Pepi, ein trinklustiger Kamerad seines Vaters, der in Danijels Küche ständig den Sieg über Nazideutschland mitfeiert, obwohl er damals noch zu klein war, um daran teilzunehmen, wird durch das Voranschreiten der Beziehung der beiden Liebhaber und Danijels Kenntnis von Pepis Handwerk als Blitzschutzmonteur schließlich bewundert: „Und Pepi wächst mächtig in seinen [Danijels] Augen […]“. (S. 85)
Es entwickelt sich eine tragische Liebesgeschichte mit einer Dreiecksbeziehung zwischen Lena, Pepi und dem Frauenheld Ljubo, die Elemente eines Krimis aufweist, da der Roman gleichzeitig von mehreren Verbrechen erzählt. Die Erwähnung, dass Lena im Herbst in der schwarzen Chronik der lokalen Zeitung als Helene M. angeführt wird, stellt eine Vorausdeutung auf das tragische Geschehen dar, was auf Elemente einer klassischen Detektivgeschichte hinweist. Die Dimension des Dunklen, Verborgenen, das „schlimme, sehr schlimme Dinge“ (S. 23) ahnen lässt, stellt einen roten Faden dar, wobei der Leser die Hoffnung hegt, dass die kindliche Erzählerfigur mit ihrem hebräischen Namensgeber das Schicksal teilt und von den anbrechenden dunklen Ereignissen verschont bleibt.
Die slowenische Rezeption spricht bei Jančars Romanen von einer Art Bildungsroman, was auch in diesem Fall zutrifft. Der Leser kann durch Danijels Erzählen und Erleben seine seelische Entwicklung beobachten, doch ist es eher eine kurze Zeitspanne, von einem Frühling bis zum nächsten und von Danijels behütendem Interesse für Lena zu der sich langsam anbahnenden Liebe für die Mitschülerin Vasilka. Lenas Aussehen verändert sich durch das tragische Geschehen gegen Ende des Romans gänzlich. Aus einer ruhigen, stillen Sekretärin, die Bücher liest und Spitzenkragen trägt, wird eine psychisch und physisch zerrüttete, eifersüchtige Frau. Am Ende überflutet sie die Dunkelheit hinter ihren Augen, die Danijel schon anfangs bemerkt. Die in der slowenischen Rezeption oft kritisierte patriarchalisch dargestellte Welt von Jančars Romanen, in denen die Frauenfiguren lediglich einen kollateralen Schaden der Geschichte und der Handlungen männlicher Figuren darstellen, wird im vorliegenden Roman teilweise durchbrochen und die Passivität der weiblichen Figur aufgehoben, obwohl ihr Schicksal weiterhin tragisch bleibt. Lena, von einem Geliebten verehrt und geliebt, vom anderen aber verprügelt, betrogen und manipuliert, beschließt am Ende: „Etwas [zu] tun, das noch keine getan hat“ (S. 254), was für Selbstbestimmung spricht.
Das ganze Geschehen wird aus Danijels kindlicher Perspektive geschildert, also aus dem subjektiven Blickpunkt, um mit Gérard Genette zu sprechen; Danijel spricht und sieht gleichzeitig und ist intradiegetisch, nimmt am Geschehen teil. Die kindliche Perspektive gehört erzähltheoretisch zum Typ des unglaubwürdigen Erzählers, der in das Geschehen verwickelt ist, weswegen er die Geschichte nicht objektiv oder zuverlässig wiedergeben kann. Er versucht über das Geschehene ein Urteil zu fällen, wobei die kindliche Perspektive gerade das unmöglich macht. Die Überwältigung durch die verwirrende Welt der Erwachsenen und der Nachkriegszeit thematisiert der junge Erzähler bewusst: „Ach, das sind so komplizierte Dinge“. (S. 139) Mit Danijels Satz: „Ich mag Kinder in Büchern nicht“. (S. 26) Es wird also selbstreferentiell im Roman thematisiert, welche Rolle Kinder als Erzähler oder Figuren in der Literatur erfüllen – es wird entweder Mitleid oder aber ein Gefühl der Mitverantwortlichkeit evoziert. In Bezug auf die Zwischenkriegszeit lässt Danijel den Leser wissen, dass es in „dieser Zeit“ gar keine wahre Kindheit gegeben hat, denn „die Kindheit war schon Erwachsensein“ (S. 26), und obwohl der Krieg schon seit mehr als 15 Jahren vorbei ist, die Handlung spielt also irgendwann in den 1960er-Jahren, „reden sie noch immer darüber“. (S. 68)
Dass Jančar einen Knaben die Vorgänge der Nachkriegszeit erzählen lässt, ist eine mehrfache äußerst kühne Wahl. Diese kindliche Erzählperspektive, die auch im Roman Engel des Vergessens von Maja Haderlap anzutreffen ist, bietet einige Vorteile: So gestattet sie dem Schriftsteller, eine neutrale Position einzunehmen, denn es werden literarische Erfahrungen historischer Fakten präsentiert, ohne eine explizite Verurteilung des Geschehens. Die moralischen Vorstellungen der Erwachsenen und der Gesellschaft entdeckt Danijel mit der Zeit und kann sie als Kind nur schwer begreifen, da sie verwirrend wirken. Aus dieser Diskrepanz entsteht oft ein komischer Moment, bei dem der Leser auflacht, obwohl die eigentlichen Themen weit entfernt vom Lachen sind – Deportationen, Hausdurchsuchungen, Internierung im KZ, also die Gräuel des NS-Regimes, und die Nachkriegsgräuel der neuen Machthaber wie etwa Ermordung der Partisanenverräter, Deportierungen von politisch Verdächtigen usw.
Der Roman trägt Merkmale des realistischen historischen Romans wie etwa fiktives Geschehen im historischen Raum, die linear-chronologische Anordnung des Geschehens sowie spielerische und stellenweise humorvolle Gestaltung der Geschichte, die durch die kindliche Perspektive ermöglicht und gerechtfertigt wird, zum Beispiel Gegenüberstellung von Hitler und Tito am Beispiel der physischen Folgen, die der deutsche Nachbar Rainer, der für die Deutschen an der Ostfront als Panzerfahrer kämpfte, und Danijels Vater als Kämpferbundmitglied wegen der beiden Diktatoren erlitten: „Wegen diesem Menschen [Hitler] hat Rainers Vater ein Bein verloren. Und Danijels Vater zieht wegen dem Marschall ein Bein nach. Nun, nicht unmittelbar wegen ihm, aber mittelbar: wegen der Hitze und dem Gulasch und dem Wein auf dem Partisanenmeeting, auf dem der Marschall gesprochen hat“. (S. 117)
Von den geschichtlichen Ereignissen wird unter anderem die Bombardierung Maribors seitens der Alliierten angesprochen, die Zerstörung der Brücke und Hitlers Auftritt in Maribor, Titos Treffen mit ausländischen Staatsoberhäuptern wie etwa Haile Selassie und Gamal Abdel Nasser auf der Insel Brioni usw. Der Wahrheitsanspruch wird auch mit Referenzen auf slowenische historische Zeitungen wie zum Beispiel die Zeitung der Triester Slowenen Edinost [Einheit] und fiktiven Auszügen aus der noch heute erscheinenden Mariborer Zeitung Večer [Abend] untermauert.
Eine der Fokusverschiebungen der angedeuteten „Katastrophe“ stellen die protosoziologischen Alltagsbeobachtungen dar, anhand derer eine Atmosphäre der Stadt Maribor geschaffen wird, die heute nicht mehr existiert: das morgendliche und nachmittägliche Pulsieren einer Fabrikstadt und deren Proletariats. Die Arbeiterscharen, naturalistisch mit der Metapher eines Tausendfüßlers dargestellt, und die sozialen Missstände in einer Industriestadt treten in den Vordergrund. Interessant ist auch die Vermittlung einer Außenperspektive auf den sozialen Status der Familie, denn Danijels Onkel aus dem amerikanischen Bethlehem macht es sich zur Aufgabe, den „in der bitteren Armut des gottlosen Bolschewismus“ (S. 73) lebenden Verwandten mit Paketen zu helfen, aber nicht mit den erwünschten Dollars, sondern mit Gebeten im Dialekt aus dem Übermurgebiet und abgenutzten Kleidern.
Eine der Leuchtturmfiguren für Danijel stellt der pensionierte Geschichtslehrer Fabjan, der Vertreter einer hybriden, sich aber in Ablösung befindenden sozialen Gruppe, dar. Die übermittelten Autostereotype der Slowenen weisen auf die damalige politische und ideologische Zerrissenheit der slowenischen Gesellschaft hin – wie Professor Fabjan unterstreicht, vergessen die Slowenen, im Gegensatz zu den Russen, nie und können dadurch auch nicht vergeben, was zum andauernden Hass führt. Daraus resultiert auch Fabjans Außenseitertum, denn die neue Welt, das heißt die slowenische Gesellschaft der Nachkriegszeit, verzeiht ihm nicht, während des Krieges in Maribor auf Deutsch unterrichtet und wegen des NS-Regimes nicht eine Deportation durchgemacht zu haben. Das metaphorisch isolierte, in der Natur angesiedelte Haus am Waldrand bietet Danijel einen Zufluchtsort, es ist ein „Märchenhaus“ von Stille und Kultur im Gegensatz zu der Fabrikatmosphäre und dem Lärm, von dem Danijel sonst umgeben ist. Hier kommt Danijel in Kontakt mit Magellans Entdeckungen, der Geschichte von Kosakenanführer Stenka Rasin – eine weitere dunkle Referenz auf Lenas Schicksal – und den Weltliteraturklassikern, neben der russischen Literatur etwa der Odyssee. Der intertextuelle Verweis auf Odysseus Fahrt zwischen Skylla und Charybdis ist eine Metapher für Danijels Leben, denn er bewegt sich in der Realität, den Träumen und Gedankenräuschen zwischen gefährlichen Orten, hört und erlebt vieles, was er als Kind nur schwer verstehen und verarbeiten kann. Für den Roman sind etliche weitere intertextuelle Verweise prägend, vor allem auf historische Romane wie zum Beispiel Wesire und Konsuln des bosnisch-serbischen Schriftstellers und Nobelpreisträgers Ivo Andrić, Mit Feuer und Schwert des polnischen Schriftstellers Henryk Sienkiewicz. Ebenso gibt es Bezüge zu den Werken der russischen Literatur, darunter Puschkin, Tolstoi oder Tschechow. Der Roman weist neben den illusionsartigen Gedankenräuschen und der Situationskomik eine Fülle von poetischen Stilmitteln wie Personifizierungen, Metaphern, Alliterationen, Geminationen und andere auf, was zur Poetisierung der Sprache beiträgt. Die Beschreibung des städtischen Alltags rekurriert auf die auditive Wahrnehmung von Maribor als einer Industriestadt, was mit Hilfe onomatopoetologischer Geminationen erreicht wird.
Das Ende des Romans ist mit biblischen Referenzen angereichert und philosophisch offen. Auch der bis zum Schluss unbekannte Gesprächspartner, dem Danijel seine Erinnerungen und Gedanken erzählt, geht in Danijels Ich auf und kommt zum Schluss, dass er weniger Angst hat, denn „es steht geschrieben, ist Wort geworden“. (S. 264) Vielleicht ist dieses Ich universell und stellvertretend für uns alle, die die Erzählung aus Danijels Mund vernehmen und somit wichtige Denkanstöße zum Leben, zur Liebe und unserer Vergangenheit lesen und reflektieren müssen. Die Übersetzung wird die deutschsprachigen Leser, die sich mit Jančars Werk bereits auskennen, sehr erfreuen, aber auch die Aufmerksamkeit eines breiteren deutschsprachigen Lesepublikums auf sich ziehen, da es den Leser in eine Atmosphäre der Nachkriegszeit eintauchen lässt, in der die Folgen des Zweiten Weltkrieges die Gesellschaft in ganz Europa tiefgreifend erschütterten. Jančar ist neben seinem Roman Die Nacht, als ich sie sah ein weiteres Meisterwerk der europäischen Literatur gelungen.
Anja Urekar Osvald