Hellmut Seiler: Wolfsberg oder Die Tiefe der Stille. Gedichte und Impromptus. Dortmund: edition offenes feld 2024. 124 S. 

Bereits in Rumänien stand das Werk des 1953 in Reps (rum. Rupea, ung. Kőhalom) geborenen Autors im Zeichen der Vermittlung. Seiler studierte Germanistik und Anglistik in Hermannstadt. Er organisierte an der dortigen Universität den Literaturkreis. 1976 wurde er Deutschlehrer in Neumarkt am Mieresch (rum. Târgu Mureș, ung. Marosvásárhely) und setzte sich mit anderen für einen Dialog zwischen rumänischen, ungarischen und deutschen Schriftstellern ein. Er sorgte gleichzeitig für die Auswahl und Übersetzung von Texten mehrerer bundesdeutscher Autoren und veranstaltete Autorenlesungen. Kontakte zu Autoren aus Temeswar (rum Timişoara) führten zur Teilnahme am Adam-Müller-GuttenbrunnKreis, der eine Antwort auf das Verbot der Aktionsgruppe Banat 1975 darstellte. Nach dem Erscheinen des ersten Gedichtbandes die einsamkeit der stühle (1982) erhielt Seiler 1984 den Literaturpreis des Kreises. Ein Jahr später, 1985, stellte er einen Ausreiseantrag, in dessen Folge er aus dem Schuldienst entfernt wurde und Publikationsverbot erhielt. 2019 wird der von ihm initiierte Rolf-Bossert-Gedächtnispreis zum ersten Mal ausgeschrieben. Seiler ist damals noch Generalsekretär des Exil-PEN (von 2014-2021), einer Vereinigung exilierter und ausgewanderter Autorinnen und Autoren in Deutschland, die Deutsch schreiben. Der Preis, benannt nach dem rumäniendeutschen Autor Rolf Bossert, wird für den gesamten deutschsprachigen Raum ausgeschrieben und während der deutschen Literaturtage in Reschitza (rum. Reșița) verliehen. 

Seiler publizierte nach der Ausreise 1988 zunächst nur wenige Gedichtbände. Die Literaturkritik nennt so eine Phase eine Schaffenskrise. Das war im eigentlichen Sinn des Wortes jedoch nicht der Fall, bedenkt man die Umstellung auf ein neues Land nach der Übersiedlung und die Notwendigkeit, sich eine Existenz aufzubauen, die schon einmal gesichert erschien. Erst die Pensionierung 2021 führte zu einem immensen Produktionsschub, von dem her auch der jüngste Band Wolfsberg gelesen werden muss. Wolfsberg (rum. Gărâna, ung. Szörényordas) ist eine kleine Ortschaft zu Fuße des Semenic-Gebirges im Banat. 

Der Band scheint symbolisch passend zur Preisverleihung, denn er nimmt die Perspektive auf das Lebenswerk mit und weist doch auf dessen Fortgang hin. Die Beschäftigung mit dem Thema „Heimat“ bildet in den neuen Gedichten einen wichtigen Aspekt der Lyrik Seilers ab. So umschreibt das Gedicht Siebenbürgischer Klagebogen ausreisebedingte Fremdheitserfahrungen an den Orten der eigenen Herkunft: „[S]o vertraut, dieses Unwissen“, heißt es da, „in einer Landschaft, die nach Kindheit duftet unter einem offenen Himmel; / in einem Landstrich, der dir ein Ziehen in der Magengrube verursacht; / der dich krank macht“. Sehr viel genauer als in diesen Zeilen kann man die Erfahrung einer gleichzeitigen An- und Abwesenheit des Ichs in der Heimat kaum beschreiben, verfangen zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Es stellt sich die Frage nach der Zugehörigkeit. Die Erinnerungen steigern sich zu einer lichtüberfluteten Präsenz im lyrischen Ich. Dieses will aber gleichfalls Worte für die Wahrnehmung der Gegenwart finden und fängt an zu „stolpern“: „[I]nmitten einer rasend gewordenen Meute Begriffe“ bröckeln „die Worte, die jetzt nackt im Regen stehen, und frösteln“. (S. 115) 

Die erinnerte Heimat führt eine geradezu gespenstische Existenz, weil die tatsächliche Gegenwart des Ortes sich in der Zeit schon längst von der inneren Welt des lyrischen Ichs entfernt hat. Gleichwohl sind die Zeilen nicht melancholisch oder pessimistisch zu deuten: „Ein Vergessen aber kehrt immer zurück“, heißt es im Gedicht Laubbläser. (S. 95) Die Wiederkehr eröffnet (im Gegensatz zu gespenstischen Wiedergängern) neue Verbindungen in die Zukunft der abgebrochenen Vergangenheit: „Ein Vergessen aber kehrt immer zurück: / das an der Wohnung in der Gara de Nord / in der wir jetzt wieder anstoßen / auf die Zukunft in Bukarest“. 

Nicht zufällig werden Hellmut Seilers Leben und Werk oft mit dem Stichwort der „Zweiheimischkeit“ beschrieben. Deshalb sei auf das Verhältnis von Sprache und Topographie in den neuen Gedichten hingewiesen: Die Gedichte markieren die Erinnerungen an Orte auch sprachlich, so zum Beispiel in Verheißung und Abfindung: „Ein ‚chef‘ (ausgesprochen kjef, rum. ‚Lust‘‚ ‚Laune‘ bzw. Feier) / musste – ja, unbedingt! ausgerichtet werden […]“. In diesen Versen gehört die Erläuterung des rumänischen Wortes zum Teil des Verses, dieser drückt also Zweisprachigkeit aus. Die Menschen, von denen die Gedichte handeln, bewegen sich in zwei, mitunter drei Sprachen durch die Verse (nimmt man das Ungarische hinzu). Die Gedichte schaffen einen eigenen Raum, der in dieser Form in der deutschsprachigen Literatur singulär ist und allein schon deswegen sehr viel mehr Aufmerksamkeit verdiente, als ihm bisher zukommt. So gesehen bleibt Hellmut Seiler auch in Deutschland ein Brückenbauer, ein Vermittler zwischen den Ländern und Kulturen, wobei er angesichts der schwierigen Lage mit einer großen Portion Stoizismus auf Geschichte reagiert, wie dies Walter Fromm in der 50. Ausgabe der Zeitschrift Bawülon 2023 zu Seilers 70. Geburtstag beschrieben hat. 

Einen neuen Schwerpunkt setzen die Gedichte des Bandes, die in vier Zyklen angeordnet werden, mit dem Blick zurück in Kindheit und Jugend. Mehrere Gedichte beschreiben das Erwachen der Sexualität und den lustvollen Umgang damit, während gleichzeitig soziale Restriktionen reglementierend eingreifen. Eine Episode gegenseitiger, eigentlich harmlos neugieriger intimer Körpererkundungen wird im Gedicht Spiele geschildert. Das Vertrautmachen endet mit einer dramatisch heftigen Ohrfeige des Vaters einer Spielkameradin, der von Beruf Tischler ist: „Meine Wange brannte, hinter mir schrillte, knirschte / und kreischte eine jahrhundertealter Maßregelungskatalog“. (S. 59) 

Jenseits solcher gewaltvollen Einpassungen in Verhaltenskodizes beobachtet das lyrische Ich eine Diskrepanz zwischen Begehren und Erfüllung, die zugleich einen poetisch spekulativen Raum für das eröffnet, was sich in der Erfüllung nicht verwirklicht, unsagbar bleibt und die soziale Realität nur streift, ohne in ihr aufzugehen: Ein Raum für Poesie. Das Gedicht Spiele III endet mit den Versen „Erfüllend ist das Wissen um das Erfahrbare; / wie viel nachhaltiger aber die Ahnung davon, was uns auf immer verborgen bleibt“. (S. 61) Diese aphoristische Schlusssequenz verweist auf eine zentrale Aufgabe der Dichtung: Sie soll genau diesen schmalen Grat zwischen dem, was sich zeigt, und dem, was verborgen bleibt, mit meinen. In dem Gedicht Der Tellerrand heißt es entsprechend nach der Schilderung einer ländlichen Szene: „Darum rieche, höre, taste, blicke ich / über den schmucklosen Tellerrand / unbekümmert schlichter Wirklichkeit / weit hinaus: auf ein Gedicht“. (S. 72) Gedichte sind notwendige Verlängerungen des Erfahrenen und Wahrgenommenen, woher sich auch der Untertitel des Bandes herleitet: Die Tiefe der Stille. 

Einen weiteren Schwerpunkt bilden in Wolfsberg Gedichte, die auf ironische, satirische oder sprachspielerische Schreibweisen zurückgreifen. Ein Gedicht wie Das klitzekleine Bestiarium erfindet in Morgensternscher Manier sprachliche Kreuzungen aus Wühlmaus und Maulwurf, deren Ontologie weitere, muntere Kreuzungen verlangt. Von „Wühlwurf“ und „Maulmaus“ geht es rasch zum „Graswurf“ und der „Maulschrecke“ über. In einem anderen Gedicht, An der Theke, ahnt man, wie ein geschilderter Traum ausgehen könnte, käme nicht das Aufwachen dazwischen: Eine „Unauffällige“ „lippt“ am Glas, die „vollen Nippen vor[schürzt]“, wobei dem Ich die „Terne stanzen“ und sie dem träumenden Ich die „Nimmerzummer zuhaucht“. (S. 9) 

In Anderswo heißt es: „Das Paradies ist immer, wo man eigentlich / nicht hingehört“. (S. 10) Solcherart erfasste Verfehlungen oder Täuschungen verweisen auf die Komik des Alltags, wenn man die Dinge allzu ernst nimmt oder sie gar ideologisch angehen will. Drei Pastiche führen das handwerkliche Geschick Seilers ebenso vor wie seine Freunde am ironischen Ton: Mit einem kollegialen Gruß bedacht werden Klopstock, Goethe und Charles Bukowski. Und tatsächlich hört man die drei aus den Versen heraus, in letzter Konsequenz aber dann doch so, wie Seiler sie beim Imitieren gesehen hat. Es handelt sich dabei um Bravourstücke in Sachen Pastiche. 

Dichtung ist bei Hellmut Seiler ein Medium der Selbstbefragung und Selbstaufklärung. Schon der Titel des Bandes verweist auf das Schlussgedicht Wolfsberg/Gârâna, im August 2022, in dem ein berühmtes Diktum von Kant aus dem Beschluss der Kritik der praktischen Vernunft zitiert wird. Bei Kant heißt es: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt, oder im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise, suchen und bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz“. 

Bei Seiler wiederholt sich diese Erfahrung als dichterischer Auftrag, „als wärst du / zum ersten Mal ganz allein auf der Welt / und trügest die alleinige Verantwortung / für ihren Bestand“. (S. 122) Gleichwohl wird die eigene und manchmal auch eine fremde Dichterexistenz nicht ohne Ironie dargestellt. Im Gedicht Manchmal klar heißt es: „Besonders froh bin ich über die nicht vorhandenen / Literaturfreunde, so höre ich niemals: Damit ist er / grandios gescheitert“. (S. 15) Das Johann Lippet zugeeignete Gedicht Aschenbecher & Nichtraucher endet mit der Strophe: „Die Linde nur steht nicht nur / nicht da sie steht da / wo mir der Kopf steht“. (S. 12)

Von Waldemar Fromm

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