Stefan Sienerth (Hg.): „Es ist fast keiner mehr“. Siebenbürgisch-deutsche Lyrik des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Berlin: Edition Noack & Block 2024. 266 S. 

Als treusorgender Literaturhistoriker aber hat Stefan Sienerth schon in Siebenbürgen in die Hinterlassenschaft der Väter gegriffen und zutage gefördert, was ihm bedeutungsschwer genug erschienen ist. Im Klausenburger Dacia-Verlag hat er zwischen 1978 und 1986 vier Anthologien mit Lyrik von den „Anfängen“ bis 1944 herausgegeben, diese fünfte gründet auf einem „Duplikat“ des schon 1990 fertigen Manuskriptes, das zu edieren die damaligen Zeitläufte dem gleichermaßen treusorgenden Verlagslektor Franz Hodjak verwehrt haben. 

Die Gedichte dieses Bandes runden die Sammlung von insgesamt 630 Volksliedern, Texten unbekannter sowie solche 140 namentlich bekannter Autoren ab. Der Herausgeber gesteht ein: „eine ganze Anzahl sind freilich bloß Gelegenheitsreimer“. (S. 6) Gleichwohl hat er mit seiner Kärrnerarbeit in Bibliotheken und Archiven, seinem Vorwort und den bio-bibliografischen Anmerkungen auch dieser fünften Sammlung aus anderthalb Jahrhunderten zur Lesens- und Denk-Würdigkeit verholfen. Nachzudenken und nachzuhorchen ist einem Echo der Stille, die sich einst in jenen Häusern eingestellt haben mag oder auch nicht, vor allem aber der Stille, die sich derzeit über all das senkt und just darum dem einen oder anderen Gelegenheitsleser oder -literaten in den Ohren klingt. 

Von den Ausklängen des Barock und pietistisch klammen Versen liest man sich vor zu bewegten Zeugnissen aufklärerischen Sendungsbewusstseins, gelangt durch anakreontisch ausgemalte Kulissen in siebenbürgische Verseschmieden, die von deutscher Klassik und Romantik befeuert sind, und gerät schließlich in die politisch bewegte Landschaft um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in der auch Gedichteschreiber an der Geschichte mitzuschreiben gedenken. Das Gros der Texte ist schlicht, weil schlicht anlassbezogen, und poetische Überhöhung gerät meist nur zum Inbild der damit verbundenen Mühsal. Doch selbst deklarierte Leichen- und Hochzeitsgedichte, fromme Reimpredigten oder um das Gegenteil von Diskretion bemühte Huldigungen oder Schmähungen berühren durch Treuherzigkeit bis hin zu unfreiwilligem Humor. Betrachtet man sie durch das von Sienerth vorwörtlich angebotene literarhistorische Raster, mag man Dilettantismus konstatieren, darf aber redliches Bemühen nicht geringschätzen.

Lesegenuss wird sich schwerlich einstellen, sofern man nicht bereit ist, Stefan Sienerths akkurat zusammengestellte Anmerkungen mitzulesen, in denen sich anderthalb Jahrhunderte siebenbürgisch-sächsischer Kulturgeschichte auftun. Zumeist waren es Söhne (nur zwei Töchter sind zu verzeichnen) aus Häusern wie den eingangs genannten oder „besseren“ im weitesten Sinn, die nach dem Abschluss eines Gymnasiums in Siebenbürgen an einer deutschen Universität (auffallend oft Jena) akademische Weihen erwarben und es dann als Stützen der sächsischen Gemeinschaft im Karpatenbogen ihren Altvorderen nachzutun suchten. Derlei nahezu missionarische Rückbesinnung ist nun beileibe kein siebenbürgisches Spezifikum, allerdings hat dieses Tun in jenem beinahe lauschig engen Kulturraum besondere Strahlkraft entwickelt. Von Wirkung zu reden ist ambitioniert, doch das Bewusstsein selbst auferlegter Pflicht ist keinem dieser Gesinnungsbewegten abzusprechen. In dessen Überschwang hat dann so mancher seinem Anliegen in gebundener Rede Nachdruck zu verleihen und eben „Gedichter“ zu schreiben versucht. Das Gelingen liegt im Auge des Betrachters. So sei denn der „geneigte Leser“ zum eigenen Vergnügen nicht abgeneigt, den einen oder anderen Schritt der manches Mal hinterwäldlerisch tapsigen Versfüße mitzugehen.

Es ist fast keiner mehr, der nur nach Tugend freit …“. (S. 36) Mit dem titelgebenden Vers klagt ein unbekannter Verfasser die Weltverkommenheit derart linkisch beschwörend ein, dass man einem anderen Unbekannten gleich darauf beim Lied eines Gänsehirten an der französischen Grenze die gleichsam „französische“ Lockerheit zu danken weiß, mit der er an den „Genius der Welten“ appelliert: „Lass ja auf unsrer Erde, was Gänse sind, stets dumm, / Denn sonst bringt manche Herde noch ihren Hirten um“. (S. 41) Gleichermaßen moralisch bedenklich und erfrischend das Zugeständnis eines dritten Unbekannten an den Zahn der Zeit, er möge alles „fressen“, jedoch: „Verschone, bitt ich dich, du lieber Zahn der Zeit, / Doch nur den Weinstock hier, der seine süßen Trauben / So gern mir gibt, und dies mein abgetragenes Kleid!“. (S. 47) 

Wenn Valentin Zacharias Wankel von Seeberg seinen Liebesschwur Wer wahre Tugend liebt aufs Inständigste in Reime zwingt, mag man an dem aufgepfropften „e“ seine verstohlene Freude finden: „Nun Schönste! Meine [meine] Hand, / Ich will mich nicht mehr retten; / Was kann mich mehr erfreuen, / Als also sklavisch seien?“. (S. 74) Auch Daniel Filtsch braucht in seiner als Hommage getarnten Rücktrittsforderung An den Freiherrn von Brukenthal einen Reim auf „so“ und schließt mit einem nachgerade akrobatischen Vergleich: „In tät’ger Ruh wie Scipio!“ (S. 79), worauf wir uns fragen müssen, wie die „Ruh“ eines abgehalfterten Feldherrn ausgesehen haben mag. Jakob Aurelius Müller lässt in seinem Leichengedicht Weicht[,] ihr Plagen auf Johanna Regina Reißenfels die Verstorbene reimen: „Einmal blicke noch nach mir, / Weine nicht, oh! Tief [tief] Gebeugter. / Deine Tränen trockne dir / Dein Geliebter, Dein [dein] Erzeugter“. (S. 97) Der gemeinsame Sohn, muss der Leser sich zusammenreimen.

Ehe man sich aber wohlfeiler Stilblütenlese ergibt, darf man sich an so ergötzlichen wie aus heutiger Sicht bedenklichen Aperçus schadlos halten wie dem Rat des Johann Seivert mit Blick auf Die Mädchens [sic!], ob schwarz oder weiß: „Das [schwarze] musst du bei der Nacht und dies [weiße] bei Tage küssen“. (S. 87) Auch findet dieser burschikose Karpaten-Anakreontiker ein Hirtendasein zwar erstrebenswert, hat aber Bedenken, weil Hirten keinen Wein tränken und sich so des Vollgenusses von Küssen entschlügen, denn „Der macht sie schmackhaft, feurig, süße, / Und zu Vorboten größter Lust“. (S. 89) Um letztere ist es auch den tüchtig plappernden Frauen in dem üppigen Mundartpanorama Hochzet von Agatha Susanna Lebrecht (Löprich) zu tun, die sich durch arbeitsintensive Festvorbereitungen nicht davon abhalten lassen, vielmehr erst recht zum Tanzen, ja darüber hinaus zum, nun ja, Balgen gelangen wollen: „Woram siele mer nöt duunzen, / soot de zoppermölig Fie, / uch mät uundre’ Männre’ ruunzen; / mir sön dich nöt nor esü!“. (S. 118) „Nur so“ seien sie beileibe nicht, und „dich“ oder dir oder uns schon gar nicht, tut eine Sofie mit gespitztem Mäulchen kund, und wer wollte es ihr verdenken … Wenn dann die Verschen zu Ende sind, wird dem herzigen Hochzeitshaus noch in aller Wohlanständigkeit gewünscht, es möge wohl ruhen: „Uch dös Wärsche’ sön naa ous. / Rah wühl[, ta] härzet Hochzethous“. (S. 122) 

Stolze sieben Gedichte entnimmt Sienerth den Papieren aus dem Nachlasse eines kaiserlichen Offiziers von Johann Samuel Kessler zum Beweis, dass dieser nicht nur Offizier und kaiserlich war. Der siebenbürgische Lyrikanthologist avant la lettre Johann Friedrich Geltch hat 1847 das Liederbuch der Siebenbürger Deutschen in zwei Bänden herausgegeben. Dieses Verdienst, dem auch der späte Sachwalter Stefan Sienerth Reverenz erweist, wird gewiss nicht geschmälert durch die prätentiös müßigen Volten, die Geltch etwa Schillers Genius angedeihen lässt: „– Blitze durchzuckten das All, deinen unsterblichen Geist – / Aber du schwangst dich empor auf des Rhythmus geheiligter Woge, / Und es schloss an die Zeit ewig der Himmel sich an“. (S. 189) Oder dadurch, dass ihm Jonas Wal im Unauflösbaren Rätsel ebenfalls zwecks Reim auf „sei“ zum „vielberühmte[n] Hai“ (S. 195) mutiert ist. 

Heutigen Erwartungen schon näher kommt Leopold Maximilian Moltke, der aus Küstrin stammende Schöpfer des nach wie vor und allenthalben, wo Sachsen beisammen sind, hoch im Schwange stehenden Siebenbürger Volkslieds, nicht zuvorderst mit diesem volkstümlich hochmögenden Hymnus, sondern etwa mit bildhaft poetischen Mutmaßungen über Eisblumen: „Der Schmuck, den unsrer Fenster / Befrorne Scheiben tragen, / Das sind der Blumen Gespenster, / Die ihren Mörder verklagen“. (S. 209) Auch der jung verstorbene Joseph Marlin, dem als Lyriker in des Wortes moderner Bedeutung die meisten Seiten zustehen, brilliert für heutiges Empfinden weniger mit den aufrüttelnd intendierten Denkversen und Freien Sonetten – Den Siebenbürger Sachsen oder toxisch schnippischen Komplimenten an Sachsenmädchen im Fortschritt als durch die verhalten verzweifelte Anrufung Am Fenster steh’ ich: „O Mutter Nacht, mit deinen grauen Flügeln / Bedecke mich, wie du rings auf den Hügeln / Still waltend lagerst deinen heiligen Frieden. // Bring Ruhe meiner Brust, der wehen, müden, / Mein Herz ist worden wie dein Angesicht, / Tiefdunkle Nacht! Versunken all mein Licht!“. (S. 218) 

Stefan Sienerths „Duplikat“-Text hat bei der Erfassung wohl per Scanner und im Lektorat einige Schrammen davongetragen (in eckigen Klammern angedeutet), die Textverarbeitung hat nach manchem Ausrufungszeichen automatisch die Großschreibung oktroyiert, auch die Kommasetzung bedürfte punktueller Aktualisierung. Doch hier steht ein Korpus bereit, an dem hoffentlich nicht nur Rezensenten ihr laues Mütchen kühlen, sondern auch Gelegenheitsleser manch willkommene Gelegenheit zum Aufmerken finden und zu der Einsicht gelangen können: Nicht nur die Geschichte, auch jene der Literatur ist Mühe und Arbeit gewesen, und doch gibt es hin und wieder eine Hochzet, wie sie im Buche steht, auch in diesem Buch. 

Georg Aescht

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