Lesja Ukrajinka: Mein Weg. Dichtungen und „Das Waldlied“. Ukrainisch und Deutsch. Von Irena Katschaniuk-Spiech, Ludger Udolph, Alexander Wöll. Dresden: Thelem 2023. 400 S.

Nun liegt das Werk – zumindest eine repräsentative Auswahl – der größten ukrainischen Dichterin und einer der bedeutendsten Vertreterinnen der europäischen Moderne in einer virtuosen Neuübersetzung in deutscher Sprache vor.

Die im Thelem-Verlag erschienene 400 Seiten starke zweisprachige Ausgabe beinhaltet neben dem Waldlied auch zahlreiche Gedichte, die mit ihrer enormen Musikalität, Zuwendung zur magischen Naturwelt, tiefgreifenden philosophischen und psychologischen Einblicken, idealistischen Konzepten der zwischenmenschlichen Beziehungen begeistern und beeindrucken. Dank der grandiosen, mustergültigen Übersetzungsleistung von Irena Katschaniuk-Spiech kann der deutsche Leser dieses archaisch-mythische Märchendrama als gereimte formvollendete Dichtung lesen. Auch wenn semantisch sehr nah am Original übersetzt wurde, gelang es, den Reim und den Rhythmus beizubehalten. Bereits der flüchtige Vergleich mit der Erstübersetzung des Waldlieds von E. Bermann (1931) veranschaulicht die Leichtigkeit und Natürlichkeit der von Katschaniuk-Spiech übertragenen Dichtung:

„Mein Haar! Mein Haar! Wehe, o weh! / Goldenes Haar, meine Wonne! / Mein Schmuck! Mein Schmuck! Wehe, o weh! / Gabe der freundlichen Sonne […]“[1]

„O weh! Dieses Gold, / welches zieret mein Haupt, / ist fort, meine Schönheit / des Schmuckes beraubt!“[2]

Diese Virtuosität von Irena Katschaniuk-Spiech geht auf eine tiefgreifende Kenntnis des Werkes und die langjährige Auseinandersetzung mit der Dichterin zurück. Bereits 2007 ebenfalls im Thelem-Verlag – erschien ihre kongeniale Nachdichtung des Dramas Kassandra von Lesja Ukrajinka. In ihrem kurzen Kommentar „Altes Märchen – neu aufgelegt“ betont die begnadete Übersetzerin den universellen Charakter und die Aktualität der Werke der 1913 verstorbenen Lesja Ukrajinka.

Der für den heutigen Leser altmodisch anmutende Titel Mein Weg bezieht sich auf das gleichnamige Gedicht, das die Autorin mit 19 Jahren verfasste. Es ist ein lyrisches Manifest einer jungen Dichterin, die sich ihrer besonderen Begabung bewusst zu sein scheint und ihr ganzes Leben der Lyrik, dem Singen der Lieder, weiht. Darin zeigt sich die Doppelbegabung – Literatur und Musik – der 1871 geborenen Laryssa Kosatch, so der bürgerliche Name der Autorin, die auf Anraten ihrer Mutter, einer Schriftstellerin, bewusst die Nationalität als Pseudonym verwendete. Lesja Ukrajinka strebte eine Karriere als Pianistin an, aber die Knochentuberkulose vernichtete diesen Traum und schränkte die junge Frau in ihrer Mobilität ein. Trotzdem erhielt die Dichterin, die aus einer wohlhabenden Familie stammte, eine hervorragende Bildung und unternahm zahlreiche Reisen auf die Krim, nach Georgien und in europäische Länder. Im Waldlied vernimmt man ihre fortschrittlichen Vorstellungen von der emanzipierten Frau, die Reflexion über die Rolle der Kunst, die Offenheit dem Fremden gegenüber, die Idee des Umweltschutzes und des nachhaltigen Umgangs mit den Naturressourcen.

Das aufschlussreiche Nachwort des Slavisten Alexander Wöll führt in die literarische Epoche der ukrainischen Moderne ein und schildert den besonderen Stellenwert der weiblichen Autorinnen – neben Lesja Ukrajinka auch Olha Kobyljanska – im nationalen Literaturkanon: „Mit ihnen beiden wird die Frau als Künstlerin und Erzieherin ihrer Nation zum neuen Paradigma und Topos der ukrainischen Literatur“. (S. 386) Die innige Freundschaft beider Dichterinnen und ihr vertrauensvoller Briefverkehr lässt in der deutschen Literatur an die „geheimsten Sehnsüchte und bangen Gefühle“ im Briefwechsel zwischen den Romantikerinnen Bettina von Arnim und Karoline von Günderode zurückdenken. Der Einfluss der deutschen Literatur auf Lesja Ukrajinka manifestiert sich in intertextuellen Bezügen zu Heinrich Heines Versdrama Atta Troll. Ein Sommernachtstraum (1841), worauf Wöll ebenso wie auf ihre Übersetzungen deutscher Autoren ins Ukrainische verweist. Er ordnet Ukrajinkas Werk nicht nur in die ukrainische, sondern in die Weltliteratur ein und betont den allegorischen Gehalt der im Waldlied verarbeiteten Folklore und Mythologie ihrer Herkunftsregion Polissiia.

Einer erweiterten Bekanntschaft mit der Geschichte der Ukraine verhilft der informative, kulturhistorische Exkurs Die Ukraine. Ein Blick auf die Heimat der Lesja Ukrajinka. Darin liefert der Slavist Ludger Udolph einen kompakten Überblick über die Geschichte der Ukraine, ihre Darstellung in der russischen und europäischen Literatur des 18. Jahrhunderts sowie über die Entwicklung der ukrainischen Sprache und der nationalen Bewegung. Auch wenn der russische Imperialismus noch als „die Kontrolle über die Steppengebiete nördlich des Schwarzen Meeres“ (S. 9) bezeichnet wird, lassen sich trotzdem Anzeichen für den Wandel der Narrative beobachten, etwa wenn die Rede davon ist, dass „das rückständige Moskovien Anschluss an neuzeitliche Ideen“ (S. 11) durch ukrainische Intellektuelle und Kulturschaffende erhielt. Dieser Narrativwandel setzt einen differenzierten, kritischen Umgang mit historischen Ereignissen und ihrer Interpretation voraus, sodass Ludger Udolph die Stationen der Rezeption der ukrainischen Geschichte in westeuropäischer Literatur nachzeichnet, wodurch auch der imperialistische Impetus Russlands zum Vorschein kommt. Denn die Hinwendung zum Ukraine-Thema in der russischen Literatur ist nicht gleichzusetzen mit einer eigenen ‚Ukrainischen Schule‘ in Polen und dem Interesse tschechischer, deutscher oder österreichischer Autoren an der Ukraine: Der russischen Literaturgeschichtsschreibung ging es darum, das Ukrainische zu vereinnahmen und als marginalen („Naturkinder“), defizitären („Kleinrussisches“) Teil des Russischen und nicht als Anderes, Fremdes, Eigenständiges darzustellen.

Die Rezeption der ukrainischen Literatur in Westeuropa erfolgte vor allem seit dem 19. Jahrhundert durch die Perspektive der russischen Kolonialmacht. Das dreihundert Jahre lang verschwiegene Massaker von Baturyn, bei dem Anfang November 1708 die Truppen des Zaren Peter I. etwa 14.000 Zivilisten und Armeeangehörige von Ivan Mazepa auf brutalste Weise hinrichteten und die damalige Hauptstadt der ukrainischen Hetmanen dem Boden gleich machten, bleibt von Ludger Udolph leider unerwähnt.[3] Dabei ging es um einen Schauprozess, um jeglichen Versuch, sich von Moskovien zu distanzieren und im Falle von Mazepa mit Schweden zu verbünden, mit Angst und Schrecken im Keim zu ersticken. Deshalb wurde das Bild des Hetmanen Mazepa – auch in Westeuropa (Lord Byron: Mazeppa, 1819) – als Frauenheld simplifiziert und als Märtyrer glorifiziert (Bertolt Brecht: Ballade vom Mazeppa), bloß um seine Idee der freiheitlichen, unabhängigen Ukraine zu verdrängen. An Beispielen wie diesen lässt sich das Spannungsverhältnis der nationalen und transnationalen Literaturmodellen herausarbeiten.

Die Entwicklung einer breiten nationalen Bewegung veranschaulicht Ludger Udolph an der Zuwendung zur ukrainischen Folklore, die mit dem Kampf um die ukrainische Sprache einherging. Neben Valuevs Zirkular (1863) und Emser Ukaz (1876) waren es seit der Belegung ukrainischer Drucke mit dem Anathem 1620 durch den Moskauer Patriarchen Filaret unzählige Versuche, die ukrainische Sprache, Literatur und Kultur auszurotten.

Dies ist nicht gelungen, ganz im Gegenteil: Die Übersetzungen tragen zur Verbreitung und Bekanntheit der ukrainischen Literatur bei. Besonders beeindruckend gelingt es den Übersetzungen von Irena Katschaniuk-Spiech, daher kann man ihrem Wunsch nur zustimmen: „Möge eine breite Leserschaft angenehme und besinnliche Stunden bei der Lektüre der wunderbaren Werke von Lesja Ukrajinka erleben, möge dadurch Verständnis und Sympathie für die Ukraine erwachsen“. (S. 385)

Natalia Blum-Barth


[1] Lessja Ukrainka: Waldlied: Märchenspiel in 3 Aufzügen. Deutsch von E. Bermann. Vorwort von B. Jakubsky. Staatsverlag „Literatur und Kunst“, Charkiw, Kijiw 1931, S. 83f.

[2] Lesja Ukrajinka: Mein Weg. Dichtungen und „Das Waldlied“. Ukrainisch und Deutsch. Von Irena Katschaniuk-Spiech, Ludger Udolph, Alexander Wöll. Dresden: Thelem 2023, S. 283.

[3] Diese Ereignisse schildert das historische Drama Mazeppa (1865) des deutschen Dramatikers und Epikers Rudolf von Gottschall.

Weitere Beiträge zu diesen Themen

Video

Spot on Lucia Moholy

von Anna Paap
Text

Wie ein Altarbild aus Tetschen nach Bayern...

von Zuzana Jürgens