Die Sprache der Liebe | Dorothee Riese: Wir sind hier für die Stille | Besprechung
von IKGS München
Dorothee Rieses Debütroman öffnet der Leserschaft eine Tür zum Land jenseits der Wälder. Transsilvanien fasziniert und überzeugt zugleich. Nach Transsilvanien, sprich Siebenbürgen, verschlägt es die Hauptfigur Judith. Das Mädchen ist eine Art Alter Ego der Schriftstellerin, die als Kind mit ihrer Familie aus Deutschland in ein siebenbürgisches Dorf zog. Sie erlebte in der Wahlheimat der Eltern ein multikulturelles Umfeld voller Widersprüche, in dem sie sowohl die rumänische Sprache als auch die gesellschaftliche Sprache beziehungsweise die Sprache der Beziehungen und deren Bedeutung in der rumänischen Gesellschaft lernte.
2. Januar 2025Dorothee Riese: Wir sind hier für die Stille. Roman. Berlin/München: Berlin Verlag 2024. 235 S.
Diese Erfahrungen prägen sie in hohem Maße und erlauben Riese, einen Roman zu verfassen, der den Leserinnen und Lesern einen Panoramablick auf das Rumänien der 1990er-Jahre bietet.
Judith wandert mit ihren Eltern nach Rumänien aus und befindet sich seit ihrer Umsiedlung in einem fortlaufenden Lernprozess. Es ist die Geschichte eines Aufwachsens und einer Entwicklung; das Mädchen wird zu einer literarischen Perspektivfigur.
Das Dorf Sarmizegetusa befindet sich an einer Stelle am Rande der Karpaten, wo sich alte Wege kreuzen, und wird für die deutsche Aussteigerfamilie das neue Zuhause im Osten Europas. Mutter Anna und Vater Kurt sehen Rumänien als eine gute Alternative, den Menschen und der Natur näher zu kommen, und möchten ihrer Tochter im Gegensatz zur deutschen Konsumgesellschaft den Zugang zum einfachen Leben ermöglichen: „Wir sind hier für die Stille, nicht für das Brot“. (S. 23) Das Haus, das sie bewohnen, hat einen Lehmofen, kein fließendes Wasser, ein Plumpsklo, einen Brunnen, Stallungen, eine Scheune und eine „Draußenküche“. (S. 27) Alles wird auf das Nötigste reduziert.
Sie sind sich aber in der ersten Etappe nach der Ankunft nicht bewusst, dass sie zwei weitere große Hürden überwinden müssen: Erstens stellt sie die rumänische Sprache vor große Herausforderungen und zweitens kennen sie die Mentalitäten in Rumänien nicht. Naiv und unbelastet haben alle drei Deutschland verlassen, ohne sich auf diese Reise ernsthaft vorzubereiten. Die Lebensweise der Dorfbewohner, die zu unterschiedlichen Ethnien gehören, stößt bei ihnen in der Anfangszeit auf Unverständnis. Judith hat es als Kind relativ leicht, weil sie sich schneller anpasst, doch für ihre Eltern dauert diese Phase etwas länger.
Ihr Aufenthalt wird jedoch durch die Bekanntschaft mit Lizitanti, einer Siebenbürger Sächsin, in die richtigen Bahnen gelenkt. Sie klärt Familie Schiller über die Mentalitäten im Dorf, über die Lebensweise der Roma und über geschichtliche Aspekte auf. Ihre erste Warnung bezieht sich auf den Umgang mit den Roma, doch genau das halten die drei Familienmitglieder nicht ein. Judith befreundet sich mit Irina, dem Mädchen mit der Ziege, und Anna pflegt engen Kontakt zu Irinas Mutter Cati, die ihrerseits (zufälligerweise) sächsische Wurzeln hat. Sowohl die rumänische Mehrheitsbevölkerung als auch die Roma haben den Eindruck, dass die deutsche Familie reich ist, und versuchen deswegen immer wieder, bei ihr zu betteln. Es gibt gewöhnlich Essen für die Armen und ein offenes Ohr für die Dorfbewohner, weil Anna und Kurt darin auch eine Möglichkeit sehen, sich aktiv am Wohlstand der Gemeinschaft zu beteiligen. Das ist auch der Grund, warum ein Projekt entsteht, das dem Dorf und vor allem den Frauen zugutekommt. Die brotlosen Frauen beginnen Mützen zu stricken, die eingesammelt und in Deutschland verkauft werden; es beginnt das sogenannte „Mützenprojekt“, das für die Bewohnerinnen des Dorfes eine Chance bedeutet, die eigenen Familien finanziell mitzutragen.
In diesem Kontext erfahren die neuen Dorfbewohner mehr über das multikulturelle Gesicht Siebenbürgens. Die Siebenbürger Sachsen sind nach dem Zweiten Weltkrieg deportiert worden und nach den traumatischen Jahren der kommunistischen Diktatur nach der Revolution von 1989 mehrheitlich in den Westen ausgewandert; die Roma, im Roman „die Rotzigen“ genannt, werden wegen ihrer Armut und ihrer Lebensweise von der rumänischen Gesellschaft als minderwertig betrachtet. Die Rumänen, die die Mehrheit im Dorf bilden, teilen sich in zwei Kategorien ein: Arme und Neureiche. Die armen Bewohner haben es schwer, ihren Lebensunterhalt zu sichern, während die Neureichen die Vorzüge der sich in Rumänien etablierenden kapitalistischen Gesellschaft genießen. Zum Beispiel hat der frühere Staatsfarmler Costache die ehemalige kommunistische Farm übernommen und ist sozial aufgestiegen. Seine Tochter Blanca muss jedoch ohne Mutter aufwachsen, weil diese nach Italien gegangen ist, um dort als Pflegekraft zu arbeiten. Riese blendet ein heikles und zugleich aktuelles Thema ein: Im Zuge der Arbeitsmigration blieben viele Kinder allein oder nur mit einem Elternteil zurück.
Judith integriert sich so gut, dass sie sich sogar wünscht, rumänisch zu werden. Nachdem sie des Rumänischen mächtig ist, stellt sie fest, dass ihr „r“ nicht so rollt, wie das bei den Rumänen üblich ist, und sie beginnt bewusst, ihre Aussprache zu verändern. In der Schule lernt sie besonders fleißig für den Rumänischunterricht und spricht über „ihre“ Trikolore – dabei meint sie die rot-gelb-blaue Flagge.
Ihre Freundschaft mit dem Roma-Mädchen führt sie in eine Welt, die sie in Deutschland nie hätte erleben können. Die beiden Freundinnen erkunden die Gegend um das Dorf und besuchen zusammen die Schule. Irina fehlt sehr oft, weil sie sich um die kleineren Geschwister kümmern und die Hausarbeit verrichten muss. Ihre Familie legt wenig bis keinen Wert auf formale Bildung, nichtdestotrotz ist Irina ein Kind, das sich in der Gesellschaft immer zurechtfindet. Judith bewundert sie dafür und lernt von ihr, wie man im Laden stehlen kann, indem man kleine Produkte in die Kleiderärmel verschwinden lässt.
Die Beziehung zu Lizitanti ist anfangs die Verbindung zur alten Heimat über die gemeinsame Sprache, die in der Aussprache fremd klingt, denn das Deutsch in Siebenbürgen ist für das Mädchen „ein schreckliches Donnern voller R und T“. (S. 14) Die „Tanti“ begleitet Judiths Alltag, beantwortet ihr wichtige Lebensfragen und wird sogar zu ihrer Wahlgroßmutter. Sie bekommt von ihr einen Hahn, um den sie sich kümmern muss, sodass es nun eine konkrete und konstante Beschäftigung außerhalb der Schule gibt. Mit diesem Geschenk setzt auch eine Art Identifikation mit dem Dorf ein. Dieses Dorfleben beschäftigt Judith von morgens bis abends und umfasst Themen wie Armut, häusliche Gewalt, die Praxis der Orthodoxie, Alkoholkonsum, Abholzung der Wälder, verlassene Kirchenburgen und das Verschwinden der deutschen Minderheit und das Schulwesen.
Auch die Eltern des Mädchens, die in Deutschland stark sozial engagiert gewesen sind, sehen ihre Aufgabe darin, den Menschen im Dorf auf Augenhöhe zu begegnen. Kurt, der „barfüßige Deutsche“, übernimmt zum Beispiel den Schlüssel von der Kirchenburg und spielt manchmal die Orgel. Er überwacht die Bäume auf einem Hügel, damit er genau weiß, wie viele von ihnen abgeholzt werden, bespricht das Thema mit dem korrupten Bürgermeister und plant gemeinsam mit der Tochter eine Demonstration, um die Bäume zu retten. Über all das berichtet er seinen Freunden aus Deutschland, denn diese „mussten mehr von der Armut erfahren“. (S. 66) Auch die Mutter Anna erlebt die Not der Dorfbewohner und wünscht sich genauso raue Hände wie die der anderen. Sie identifiziert sich vor allem mit dem harten Leben der Frauen und weiß, dass es für sie kein Entkommen aus dem Dorf gibt. Sie lehrt Irinas Mutter Cati lesen, verwaltet das „Mützenprojekt“, berät die Armen der Gemeinde und kocht jeden Tag für Judiths Freunde. Beide Elternteile führen ihr Leben frei von allen Konventionen fort. Es ist für sie die Suche nach einem neuen Lebenssinn. Sogar der Kontakt zu der Familie in Deutschland wird nicht regelmäßig gepflegt: Einerseits, weil es im Dorf anfangs keine Telefonanschlüsse gibt, und andererseits, weil die Großeltern zu sehr an den Traditionen eines geregelten Lebens festhalten.
Dorothee Rieses Roman spricht die Sprache der Liebe – der Liebe zum Fremden, zu bereichernden Erfahrungen, zu Rumänien. Die Geschichte einer persönlichen Entwicklung verläuft parallel zum Weg der rumänischen Gesellschaft aus dem Kommunismus. Judiths Figur fesselt und macht neugierig auf mehr.
Von Andreea Dumitru-Iacob