Der Buchmarkt hat seine eigenen Grenzen: Sie orientieren sich weniger an Geografie, Politik oder Völkerrecht, sondern vorrangig an der Sprache. Selbst in Zeiten scharfer Zensur finden verbotene Bücher ihre geheimen Wege über die Grenzen und hinter den Rücken der Zollbeamten in die Buchhandlungen. Hier warten sie unter dem Ladentisch auf interessierte Käufer. Schon im 18. Jahrhundert zirkulierten Bücher zwischen liberaleren und restriktiveren Gebieten, etwa zwischen Sachsen und den böhmischen Erblanden, speziell zwischen Leipzig und Prag.

Leipzig galt seit dem 18. Jahrhundert als die Hauptstadt der deutschsprachigen Literatur. Hier

  • saßen die wichtigsten Verlage und Druckereien,
  • traf sich zweimal jährlich die ganze Branche bei den beiden Messen im Frühjahr und Herbst,
  • gründeten sich die Fachverbände der Verleger und Sortimenter und gaben erstmals Kataloge der Neuerscheinungen heraus.

In der österreichischen Monarchie hingegen hatten es Verleger von schöngeistiger Literatur wegen der Zensur und strenger Konzessionsregeln traditionell schwer. Zwar wurde der illegale Nachdruck gefördert – Österreich trat erst nach dem Ersten Weltkrieg dem internationalen Vertragswerk zum Urheberrecht bei –, doch gerade das schadete dem Geschäft der inländischen Belletristik-Verlage. Deutschsprachige Schriftsteller aus Österreich publizierten ihre belletristischen Werke daher oft außerhalb des eigenen Landes. So verwundert es kaum, dass sich die deutsch schreibenden Autoren aus Prag um 1900 nach Leipzig orientierten.

Ein junger Verlag für die Prager Avantgarde

Der Verleger Ernst Rowohlt holte 1910 den aus einem wohlhabenden Bonner Elternhaus stammenden Germanistikstudenten Kurt Wolff als Teilhaber in seinen jungen Verlag. Erste Kontakte zu dem im Prager Café Arco verkehrenden sogenannten Prager Kreis vermittelte der umtriebige Max Brod. Er brachte sowohl Franz Werfel als auch Franz Kafka in den Verlag.

Kurt Wolff in Leipzig um 1913. Fotografie von Frank Eugene (German Historical Institute, Public Domain)

Brod und Kafka besuchten die beiden Verleger im Sommer 1912 in Leipzig. Kafka berichtet in seinem Tagebuch fasziniert von dem bohemienhaften Treiben der Lektoren und Verleger zwischen regelmäßigen Mittagessen in Wilhelms Weinstube und nachmittäglichen Bordellbesuchen. Sein Erstling „Betrachtung“ erschien Ende 1912 bei Rowohlt, im folgenden Jahr gab Brod ein „Jahrbuch für Dichtkunst“ mit dem Titel „Arkadia“ heraus. Darin vertreten waren neben Werfel auch die Brüder Hans und Franz Janowitz, Oskar Baum, Otto Pick mit eigenen Gedichten sowie Kafka mit seiner berühmten Erzählung „Das Urteil“.

Max Brod (Hrsg.): Arkadia. Ein Jahrbuch für Dichtkunst. Leipzig: Kurt Wolff Verlag 1913

Der Verlag verfolgte eine besondere Strategie zur Bindung von Autoren: Er stellte sie als Lektoren ein, garantierte ihnen so ein gesichertes Einkommen und lockte gleichzeitig weitere Schriftsteller aus dem Freundeskreis an. Kafka bemerkt nicht ohne Neid im Dezember 1912 gegenüber seiner Verlobten Felice Bauer über den Kollegen Werfel:

„Übrigens hat er auch schon seinen Lohn und lebt in Leipzig in einem paradiesischen Zustand als Lektor des Verlages Rowohlt (wo auch mein Büchel erschienen ist) und hat in einem Alter von etwa 24 Jahren völlige Freiheit des Lebens und Schreibens. Was da für Dinge aus ihm hervorkommen werden!“

Franz Kafka: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Hrsg. von Erich Heller und Jürgen Born. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1976, S. 178

Die Gerüchte über Werfel zogen weitere Prager an, wie Willy Haas in seiner Autobiografie schreibt:

„Unser Prager Kreis war halb und halb in Auflösung. Franz Werfel […] ging als Lektor zu dem jungen Kurt-Wolff-Verlag nach Leipzig. Dort waren auch Walter Hasenclever und Kurt Pinthus als Lektoren beschäftigt. Es war die große Mode, bei Kurt Wolff Lektor zu sein. Ich beschloss, mein lustloses juristisches Studium an den Nagel zu hängen, und dasselbe zu tun – Werfel und Hasenclever hatten auch mir dort eine Volontärstellung verschafft.“

Willy Haas: Die literarische Welt. Erinnerungen. München: List 1957, S. 60.

Buchreihe für die junge Generation: Der jüngste Tag

Unstimmigkeiten zwischen dem Schöngeist Wolff und dem zupackenden Geschäftsmann Rowohlt führten zu dessen Ausscheiden. Ab 1913 firmierte das Unternehmen als Kurt Wolff Verlag. Wilhelms Weinstube, die schon Kafka aufgefallen war, wurde nach dem Café Arco zum neuen Treffpunkt der Gruppe um Brod und Werfel.

Die erste Serie der Buchreihe „Der jüngste Tag“: Franz Kafka: Der Heizer. Ein Fragment. Leipzig: Kurt Wolff Verlag 1913 (Der jüngste Tag; 3)

Die Investition des Verlegers lohnte sich: In der Hoffnung auf zumindest zeitweise finanzielle Absicherung im Wolff’schen Lektorat kamen immer mehr Autoren in den Verlag. Die Netzwerke, die sich in Bars und Bordellen knüpften, kamen den Literaten ebenso zugute wie dem Verlag, der dieses Treiben finanzierte.

„Im Frühjahr 1913 saßen Wolff, Werfel, Hasenclever und ich in einer nächtlichen Bar. Es wurde beschlossen, eine Serie kleiner dichterischer Bändchen zu beginnen, deren jedes, im Gegensatz zur schon florierenden Insel-Bücherei, von einem jungen oder noch unbekannten Autor verfasst sein sollte. Wie aber der Name? Auf dem Tisch lagen die Korrekturbogen von Werfels neuem Gedichtbuch ‚Wir sind‘. Mit einem Bleistift wurde hineingestochen, und die letzte Zeile der aufgeschlagenen Seite 116 begann ‚O jüngster Tag‘.“

Kurt Pinthus: Leipzig und der frühe Expressionismus. In: Expressionismus. Aufzeichnungen und Erinnerungen von Zeitgenossen. Hrsg. von Paul Raabe. Olten, Freiburg im Breisgau: Walter 1965, S. 82.

Der als Lektor angestellte Dichter Kurt Pinthus entwirft so den Gründungsmythos der berühmten Buchreihe „Der jüngste Tag“. Von den bis 1921 insgesamt 86 Bänden der Reihe stammen elf von Prager Autoren. Hier sind Brod, Kafka und Werfel, Oskar Baum und Johannes Urzidil sowie die beiden tschechischen Schriftsteller Otokar Březina und Karel Čapek (beide in der Übersetzung des Pragers Otto Pick) zu nennen.

Illustrierte Einbände: Franz Kafka: Die Verwandlung. Leipzig: Kurt Wolff Verlag 1916 [recte 1915] (Der jüngste Tag; 22/23)

Tschechische Literatur im Kurt-Wolff-Verlag

Otokar Březina: Hymnen. Berechtigte Übertragung von Otto Pick. Leipzig: Kurt Wolff Verlag 1913. 2. Aufl. 1917 (Der jüngste Tag; 12)

Eine Vorreiterrolle nahm der Verlag auch sonst bei tschechischen Autoren ein. Den Anfang machte 1913 Fráňa Šrámeks Erzählungsband „Flammen“ in Picks Übersetzung. 1914 kam Arnošt Dvořáks Drama „Der Volkskönig“ in der Bearbeitung Max Brods heraus, zwei Jahre später folgte Rudolf Fuchs’ Übersetzung der „Schlesischen Lieder“ von Petr Bezruč, die 1917 und 1926 weitere Neuauflagen erlebten. Nach Březinas „Hymnen“ im „Jüngsten Tag“ verlegte Wolff noch drei weitere Bändchen des Autors in Übertragungen von Pick, Emil Saudek und Werfel.

Gustav Meyrink: Der Golem. Kurt Wolff Verlag 1914

Doch nicht nur die Prager Avantgarde erschien im Leipziger Verlag. 1915 verlegte Wolff Gustav Meyrinks fantastischen Prag-Roman „Der Golem“, der mitten im Ersten Weltkrieg zum Bestseller wurde und die Hinwendung zu marktgängiger Romanliteratur markiert. Diese trieb Wolff mit Werken von Brod, Werfel, Ernst Weiß, aber auch Heinrich Mann voran. Den Niedergang und damit auch das Abbrechen der Beziehung nach Prag verursachten

  • der Umzug des Verlages 1919 nach München,
  • vor allem die Wirtschaftskrise und
  • die Hyperinflation 1923 in Deutschland.

Jetzt wurde Österreich als Verlagsstandort schlagartig attraktiv: Brod, Werfel und Mann gingen mit ihren Werken nach Wien zu dem 1924 neu gegründeten Verlag Paul Zsolnay. Doch zumindest für rund ein Jahrzehnt war Leipzig der Verlagsort der Prag Literatur gewesen.

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