Wechselnde Farben, gleiches Muster | Yvonne Hergane: Die Chamäleondamen | Besprechung
von IKGS München
In ihrem ersten Roman erzählt Yvonne Hergane von vier Frauen aus vier Generationen, die es trotz aller epochenspezifischen Unterschiede doch immer wieder schaffen, sich der wandelnden Welt anzupassen, voneinander zu lernen und dabei stets zusammenzuhalten. Vor allem dann, wenn die vielen Männer, die zwar zu Erzeugern, aber nicht zu Vätern taugen, alles nur erschweren.
2. Juli 2024Yvonne Hergane: Die Chamäleondamen. Roman. Augsburg: Maro Verlag 2020. 240 S.
Am gescheitesten hat es wohl Edith gemacht – die erste der Chamäleondamen –, die in ihrer Hochzeitsnacht durchs Fenster zu ihrer großen Liebe flüchtete und mit ihr Marita zeugte, die gleich drei Ehen schloss und für einen ihrer Liebhaber sogar hinter Gitter ging. Ediths Tochter Marita steht beispielhaft für die Liebesprobleme, an denen die vielen Ehen scheitern, aber dafür die Generationen an Chamäleondamen zusammenschweißen. Und schließlich waren es eh immer die Männer, die daran schuld waren, dass nichts aus den Altarverspreche(r)n wurde. Sie betrügen, lügen, fliehen und flüchten, über Straßen und durch Flüsse, und kommen doch nicht allzu lang allein zurecht. Nicht selten müssen die Chamäleondamen auf Männer – auf die Väter ihrer Kinder – herabblicken, die zurückkehren, um Vergebung bittend und bettelnd, nachher aber doch nur wieder schlagen und schimpfen. Hergane bringt mit ihrem Roman Frauen zum Schmunzeln, Männer in Verlegenheit und nimmt erstere in die Pflicht, nicht nur an das Kind, sondern auch an sich zu denken. Das ist jedenfalls die Botschaft, die Maritas Tochter Ellie ihrer Hanne auf den Weg gibt. Die jüngste der Chamäleondamen hatte die Lüge „Wir streiten uns nicht, wir spielen nur streiten […]“ (S. 156) allerdings ohnehin schon längst durchschaut, als ihre Mutter sie unter Tränen bittet: „Eins musst mir versprechen, Kind, nie, nie sollst so bleed sein wie ich und dich von einem Mann so behandeln lassen, so schön kann kein Mann sein, dass er das mit dir machen darf, versprich mir das“. (S. 160)
Alle vier Generationen sind geplagt von Liebespech und Männerfluch, schaffen es aber stets für ihre Kinder da zu sein. Daran kann auch der rumänische Ceauşescu-Staat nichts ändern. Auf dieser Periode liegt der erste große Schwerpunkt des Romans, in den die Autorin mit Sicherheit auch autobiografische Elemente einfließen ließ. Schließlich verbrachte sie ihre Kindheit ebenfalls im realsozialistischen Rumänien und siedelte erst mit 14 Jahren in die Bundesrepublik Deutschland über, während ihr Vater bereits einige Jahre zuvor durch die Donau gen Westen geschwommen war. Im Roman ist es Hannes Tata (dt. Papa), der den Schritt wagt, das nicht länger zu ertragende Leben im Ostblock hinter sich zu lassen. Erst einige Jahre später wird sie ihn wiedersehen, wenngleich „Hanne [dann] nur langsam auf den Vater zugeht, der mit hochgereckten Armen hinter den auseinandergleitenden Schiebetüren [am Flughafen] auftaucht“. (S. 50) Hergane gibt dem Leser, der Leserin einen großartigen, zugleich aber auch tristen Einblick in die Lebensrealität eines Kindes, das im realsozialistischen System der Plan- und Mangelwirtschaft und ohne wirkliche Vaterfigur aufwächst. Ein Leben, durchdrungen von der allgegenwärtigen Securitate, erschwert durch den Status als Verräter am Sozialismus und am rumänischen Volke. Leicht haben es die Banater Berglanddeutschen in dieser Zeit nicht – wie es auch sonst niemand leicht hat in einem Land, in dem selbst das so seltene Pepsi-Trinken lebensgefährlich werden kann. Dennoch wissen sich die Chamäleondamen hier ebenfalls zu helfen – und sei es auch durch Betrug, Geheimzeichen, Schmuggel und Schmiererei. Alles für einen genehmigten Ausreiseantrag in den Westen, alles für eine schöne Kindheit, in der es auch an Büchern niemals mangeln soll. Denn diese sind Hannes größte Leidenschaft – eine Parallele zur Autorin –, zeichnen sie doch eine ganz andere Welt als die erlebte. Und trotzdem kommen in dem Roman die schönen Passagen aus dem kindlich-jugendlichen Leben in Rumänien nicht zu kurz. Hergane nimmt den Leser, die Leserin mit in eine Welt, gefüllt mit lustigen Momenten voller Spiele, Streiche und (Lese-)Leidenschaften, in der es auch an Neuanfängen nicht fehlt. Beispielhaft stehen hierfür die Szenen kurz vor der Geburt der Kinder, mit den Schmerzen, den hilflosen Vätern und den schlechten Witzen der Ärzte.
Humorvoll wird es hingegen insbesondere dann, wenn die Autorin ihre Figuren im Dialekt der Banater Berglanddeutschen sprechen, schimpfen und klagen lässt. Das tun sie immer, selbst noch auf dem Sterbebett. Denn auch der Tod gehört zum Leben und zu den Geschichten des Romans. Das Sterben ist kein Thema, vor dem sich Hergane scheut, sondern vielmehr eines, das sie ganz bewusst und offen anspricht. Unerwartet, unerwünscht und plötzlich kann es jeden treffen – Schulfreunde, (Groß-)Mütter und auch beinahe einen selbst. Neben zahlreichen, selbst verschuldeten Nahtoderfahrungen sind es aber vor allem die letzten Dialoge mit den sterbenden Figuren, die die Leserschaft zum Nachdenken und Mitfühlen anregen. Mit der Lektüre hin und wieder zu pausieren, ermöglicht es, diese Momente in ihrer ganzen Tiefe aufzunehmen und sich hineinzuversetzen in die Lage der Personen, die den Tod ihrer (Groß-)Mutter nicht länger hinauszögern können. Hergane zeichnet ein beeindruckendes Bild von den Momenten vor dem letzten Atemzug, von den Emotionen, den Erinnerungen und der Reue – von den Gefühlen „vor dem endgültigen Aus, genau wie jene letzte Stunde voller Klarheit, die Ellie ihrer Tochter zum Abschied geschenkt hat“. (S. 188)
Eine Generation folgt der anderen. Und wäre vorne im Buch nicht ein Familienstammbaum abgebildet, fiele es wohl auch den Leserinnen und Lesern schwer, die verwobenen Lebenswelten und -pfade der vier Chamäleondamen zu überblicken, die von 1919 bis 2020, vom Banater Reschitza (rum. Reșița) über Augsburg bis nach Hamburg führen. Mit stets unerwarteten, aber niemals unpassenden Kapiteleinschüben, die das Lesepublikum erneut in eine andere Epoche hineinversetzen, schafft Hergane es immer wieder, die Generationen miteinander zu verbinden, Parallelen zu ziehen, Rückblicke zu gewähren und Lektionen für die Zukunft anekdotenartig vorwegzunehmen. Es empfiehlt sich allerdings, den Roman mit großer Aufmerksamkeit zu lesen, um sich nicht in der Fülle an Lebensgeschichten zu verlieren. Durch kurze, prägnant formulierte Titel, ergänzt durch Zeitangaben, wirkt die Autorin einer möglichen Verwirrung allerdings präventiv entgegen. Die Stärke des Romans liegt außerdem gerade darin, die Geschichten der vier Generationen nicht linear zu erzählen, sondern brückenschlagend.
Der zweite große Schwerpunkt des Buches liegt – neben der Ceauşescu-Zeit – auf dem Leben in der deutschen Bundesrepublik, dem Neuanfang, dem Ankommen. Gehänselt wird Hanne von ihren Mitschülern für ihren Dialekt und ihren Kleidungsstil, der für bayerische Ohren komisch klingt und westlichen Augen altmodisch erscheint. In Deutschland ist sie die Fremde, das Mädchen aus Rumänien – also aus dem Land, über das es fast ausschließlich negative Vorurteile gibt. Und auch sie wird abgestempelt und in diese Schublade gesteckt. Die letzte der Chamäleondamen sieht sich mit der Herausforderung konfrontiert, sich in der neuen Heimat zurechtzufinden und sich an die gänzlich unbekannten, postmigrantischen Umstände und Schwierigkeiten anzupassen. Sie will sich der Diskriminierungserfahrung widersetzen, ohne dabei ihre frühere Identität aufgeben zu müssen. Doch wie soll sie über ihre Kindheit, ihre Heimat reden? Soll sie von „drüben“ erzählen oder sagen, wie es „bei uns“ war? Nachdem sie für jede Variante und von allen Seiten kritisiert wurde, „spricht Hanne [allerdings] kaum noch von ihren ersten vierzehn Jahren“. (S. 153)
Neben der inhaltlichen Vielfalt und Vielschichtigkeit ist es insbesondere die sprachlich-rhetorische Gestaltung, die diesen Roman so einzigartig werden lässt. Die Autorin verwendet und kreiert Wörter wie „Kriechkälte“ (S. 30), „Löschvergesslichkeit“ (S. 55) und „Wasserwiderwillen“ (S. 79), die nicht im Duden stehen und doch hineingehören, auf den ersten Blick vielleicht verwirren, aber schnell zu überraschend unerwarteter Klarheit führen. Sie wählt Formulierungen, die es so noch gar nicht gibt, und zeigt den Leserinnen und Lesern, was Literatur und Sprache eigentlich so alles kann und wie Maritas „Leben im Ohrfeigenüberfluss“ (S. 30) wirklich zu verstehen ist. Hergane schreibt bunter, als ein Chamäleon jemals sein könnte. Und die von ihr geschaffenen Figuren sind es sowieso.
Von Philip Piljić