Endstation Gardasee | Akos Doma: Das Haus in Limone | Besprechung
von IKGS München
Der lang erwartete vierte Roman des in Budapest geborenen, seit vielen Jahren in Eichstätt lebenden Akos Doma beginnt mit einem Prolog: „Am Morgen des 1. April 2018 fuhr Sebastian F., wie er später in den Zeitungen genannt wurde, mit der Seilbahn von Malcesine auf den Gipfel des Monte Baldo“. (S. 7) Von dort aus startet er seinen Gleitschirmflug, stürzt in den See und kann nur noch tot geborgen werden. „Als Unfallursache wurde menschliches Versagen angenommen, irgendein schwerwiegender Flugfehler […].“ (S. 8)
27. Februar 2025Akos Doma: Das Haus in Limone. Roman. Salzburg: Jung und Jung 2024. 302 S.
Limone, Malcesine, Gardasee? Für seine Romanreise ins Herz eines Mannes, dem die Gegenwart verloren geht und den seine Vergangenheit einholt, hat Akos Doma einen nicht unbedingt erwartbaren, aber mehr als nur landschaftlich reizvollen Schauplatz gewählt. Wobei es von einem Ufer zum anderen geht, parallel zum rasanten Hin und Her des aus den Fugen geratenen Innenlebens der Hauptfigur, des gut fünfzigjährigen Gabriel Berger. Das Haus in Limone ist zuallererst ein vertracktes literarisches Verwirrspiel um Mann und Frau – und zugleich ein aktueller Zeit- und Gesellschaftsroman.
Gabriel möchte eigentlich nur für ein Wochenende an den See fahren, um endlich sein Ferienhaus zu verkaufen, das er seit anderthalb Jahren nicht mehr betreten hat. Er will Abschied nehmen, Abschied von seinem früheren Leben und seiner einstigen großen Liebe Ana. Doch da taucht die Studentin Nella auf, die ihn stark an Ana erinnert und ihn in eben jene Vergangenheit versetzt, die er eigentlich loswerden will. Die Zeiten verknoten sich, und als er am nächsten Morgen aufwacht, entdeckt er in seinem Hotelzimmer eine ihm unbekannte Frau. Kann das sein? Hat er sich über Nacht verwandelt? „Mein Blick wanderte zu meiner Hand auf der Bettdecke, aber sie hatte gar nichts Insektenhaftes an sich“ (S. 13f.) – nicht die einzige Anspielung auf Franz Kafka übrigens. Doch diese rätselhafte Hotel-Liliána, deren Mutter übrigens „Ungarin“ war (S. 23), ist ganz real – und in großer Sorge, weil ihr Ehemann Alexander seit Tagen verschwunden ist. Gabriel macht sich mit ihr auf die Suche, und diese Suche, die die beiden schließlich auch zum Haus in Limone führt, wird immer mehr zu einem Trip in seine eigene Vergangenheit. Und in die von Liliána, denn bald stellt sich heraus, dass der vor anderthalb Jahren tödlich verunglückte Sebastian ihr Sohn war. „Seitdem gehört dieses Gefühl zu meinem Leben, es ist das Einzige, was mir geblieben ist […] diese entsetzliche Leere […].“ (S. 78)
Das Grundgefühl einer inneren Leere verbindet die Figuren des Romans, und ihr Blick auf die Gegenwart ist oft abgrundtief pessimistisch. „Geld, Medien, Politik, alle Macht konzentriert sich in den Händen winziger Eliten, die uns mit Scheinproblemen ablenken“ (S. 105), sagt Liliána. „Totale Überwachung, Kontrolle, Zensur, was heute Wirklichkeit ist, wäre noch vor zwanzig Jahren unvorstellbar gewesen, und wie wird es dann in zwanzig Jahren aussehen? Ich verstehe nichts davon, aber ich kann mir schon vorstellen, dass einer den Verstand verliert, wenn er da tiefer eintaucht.“ (S. 105) Das ist offenbar Liliánas Sohn Sebastian passiert, der mit seiner Freundin Nora in Berlin gelebt und sich als Fotograf etabliert hatte, ehe er von einem Reisemagazin das Angebot erhielt, eine fantastisch verwunschene Burg in der Slowakei abzulichten – und eines Tages in den Osten aufbrach.
Diese Reise markiert den Beginn einer längeren, von Liliána erzählten Binnengeschichte: Sebastian verließ Nora, verschwand einfach – und als er wieder auftauchte, war Asja in sein Leben getreten, eine rätselhafte, verwirrend natürlich wirkende Pilzsucherin, eine faszinierende Persönlichkeit, die auf ihre Umgebung wirkte, als wäre sie nicht von dieser Welt. „Ihr Deutsch war fast perfekt, da die Familie ihrer Mutter der Volksgruppe der Zipser angehörte, die einst dort gelebt hatte, hätten sie zu Hause immer Deutsch gesprochen.“ (S. 122) Die Liebe war groß, Asja brach mit der ihr vertrauten Welt, folgte Sebastian in die fremde deutsche Großstadt – und kehrte eines Tages vom Besuch ihrer Mutter nicht mehr nach Berlin zurück. Sebastian war tieftraurig, und seine Mutter litt aus der Ferne mit ihm. Und ihr Mann? „Alexander war abgetaucht, irgendwo hier am See, um an seinem ach so wichtigen Buch zur Aufklärung der Menschen zu arbeiten. Ich begann, ihn wirklich zu verachten, denn während er die Menschheit rettete, ging direkt vor seiner Nase das Leben seines eigenen Sohnes in die Brüche, und er bemerkte es nicht einmal. Wie all diese selbsternannten Weltretter war er in seinem Privatleben ein Versager.“ (S. 131) Hier klingt ein Thema an, das im Haus in Limone öfter auftaucht: Kritik an, ja Verachtung für die sich vom Natürlichen immer weiter entfernenden Intellektuellen und Menschheitsbeglücker, die sich intensiver um ihr Ego kümmern als um ihre Familie und ihre Kinder – die „Biophobie“, wie er das nennt, ist für Akos Doma der zerstörerische Grundzug unserer Zeit (siehe Interview). Auch Gabriel Berger ist davon nicht frei, obwohl er es besser wissen sollte. „Denn es war doch klar, sonnenklar, dass die Frau in ihrer Schönheit das Fleisch gewordene Leben war wie der Mann in seiner Missratenheit der Geist gewordene Tod.“ (S. 144)
Das gelegentlich etwas unübersichtliche, jedenfalls nicht ganz mühelos zu entwirrende Erzählspiel setzt sich fort. Akos Domas mitunter bitterer Humor blitzt immer wieder auf, besonders in den pointierten Dialogen und den minutiösen Beschreibungen unterschiedlicher Milieus, die seine ganz eigene Sicht der Welt abseits gängiger Diskurse und oberflächlicher Ideologien deutlich werden lassen. Gabriels Blick auf seine Vergangenheit wird genauer, die Gegenwart erscheint diffus, und für die Zukunft erwartet er sich nicht viel Gutes. Pessimist will er nicht sein: „Pessimistisch wäre die Vorstellung, dass es so weitergeht“. (S. 161) Doch die Gewissheiten, die Zeiten, die Frauennamen und -gesichter purzeln ineinander. „Those Were the Days!“ (S. 168) – ist Gabriels Leben womöglich schon vorbei? Nein, aber die Orientierung fehlt, nicht nur im Kreisverkehr: „Ich fuhr weiter im Kreis, bremste, blinkte und blieb doch jedes Mal im Kreisel, Runde um Runde, bis in meinem Kopf wie in einem rasenden, außer Kontrolle geratenen Karussell, das alles von sich schleudert, nur noch ein Gesicht übrig blieb“. (S. 203) Die Frauen, die Liebe – Gabriel kommt einfach nicht klar damit und taumelt von einer „Mittsommernarretei“ (S. 237) in die nächste.
Wo beginnt seine Schuld, was muss man als Verrat oder als Vertrauensbruch bezeichnen? „Ehrlich lügen, viele lieben und jede ganz ehrlich für die eine halten, hast Du eigentlich noch alle Tassen im Schrank?“, muss er sich fragen lassen. (S. 214) Nein, hat er nicht – und damit ist Gabriel in unserer durch und durch entfremdeten Gegenwart beileibe nicht allein. Der verwirrte Zustand des Protagonisten spiegelt den mehr oder weniger sinnfreien Aktivismus einer Gesellschaft, der eine verbindliche Vision eines humanen Zusammenlebens weitgehend abhandengekommen ist. „Sollte es wirklich auf diese kalte, kleinliche, idiotische Welt von Kondomen, Strafzetteln und Lebensversicherungen hinauslaufen? War das alles, was vom Traum übriggeblieben war?“ (S. 275) Kein Wunder, dass Das Haus in Limone nicht unbedingt eine aufbauende oder gar heitere Lektüre ist. Wie denn auch? „Wenn nichts zu erwarten war, würde ich eben auf das Nichts warten. Da wusste man wenigstens, dass man am Ende nicht mit leeren Händen dastand.“ (S. 298)
Klaus Hübner