Saša Stanišić: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne. Erzählungen. München: Luchterhand 2024. 256 S.

Vor diesem mit der Witwe stieg Saša Stanišić bereits mit seinen Romanen Wie der Soldat das Grammofon repariert, Vor dem Fest, Fallensteller und Herkunft zu einem der prominentesten zeitgenössischen Schriftsteller Deutschlands auf. Für sein neuestes Werk wurde er kürzlich mit dem renommierten Wilhelm-Raabe-Literaturpreis ausgezeichnet.

Saša Stanišić, bekannt für seine Fähigkeit, komplexe Themen mit Witz und Tiefgang zu verbinden, präsentiert uns zehn tragikomische, humorvolle oder einfach alltägliche Geschichten, die sich mit universellen Themen am Beispiel scheinbar uninteressanter, durchschnittlicher Protagonisten befassen. Es handelt sich um Menschen, denen man jeden Tag auf der Straße begegnet.

Das Buch eröffnen zwei Zitate: das erste von Ray Cumming „Time is what keeps everything from happening at once.“ (S. 5) und das des Autors selbst: „Bitte der Reihe nach lesen“. (S. 5) Offensichtlich dürften Zeit und Linearität beim Schreiben eine wichtige Rolle gespielt haben, was darauf hinweist, dass der Struktur mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte, als es in Saša Stanišićs Werken üblich ist. Ein verspielter Titel und eine verspielte Struktur – da erwartet den Leser etwas ganz Besonderes, so war zumindest mein erster Eindruck.

Die Struktur des Buches erinnert ein wenig an das Brettspiel, das in den drei aufeinanderfolgenden Kurzgeschichten gespielt wird: Gegen das Kind in Memory gewinnen, Gegen das Kind in Memory verlieren und Gegen das Kind in Memory unentschieden holen. Bei dem Memory-Spiel geht es darum, zwei identische Karten miteinander zu verbinden, wenn sie alle verdeckt liegen. In diesem Sinne hatte ich den Eindruck, dass ich die Geschichten, von denen einige folgerichtig sortiert waren, andere aber sich an unerwarteten Stellen im Buch befanden, miteinander verbinden muss. Die wahre Enthüllung kam jedoch am Ende des Buches, in der Geschichte Anprobe.

Das Buch ist also in zehn mehr oder weniger zusammenhängende Geschichten unterteilt, gefolgt von der Geschichte Anprobe. Die erste und die letzte Geschichte tragen den gleichen Titel Neue Heimat, und während die erste die Frage aufwirft „was wäre wenn …?“, stellt die letzte die Frage „was würde passieren, wenn nichts passieren würde?“. Damit sich der Leser dieser Besprechung keine Gedanken darüber machen muss, was das eigentlich bedeuten soll, stürze ich mich gleich in die erste Geschichte, die die Grundidee der folgenden enthält.

Der Autor entführt den Leser in das Jahr 1994, in die Weinberge direkt bei Heidelberg. Wenn Ihnen das bekannt vorkommt, ist dies nicht das erste Buch von Stanišić, das Ihnen in die Hände gefallen ist. In gewisser Weise setzen die Protagonisten aus der Jugend des Autors die Geschichte aus dem Roman Heimat fort, der allerdings einen ernsteren Ton anschlägt. Vier Jungs ‒ Saša, Piero, Nico und Fatih ‒, alle mit Migrationshintergrund, tun einfach das, was Teenager eben tun: Sie versuchen, langweilige Tage interessanter zu gestalten, während, so der Autor, ihre Eltern darum kämpfen, ihnen ein besseres Leben in Deutschland zu ermöglichen. In einem seiner letzten Interviews bestätigte der Autor, dass er erneut von seinen Freunden aus der Jugend inspiriert worden sei und führte aus, dies sei das letzte Buch zu diesem Thema, da er sich anderen zuwenden sollte.

Bei einem der üblichen Treffen in den Weinbergen wirft Fatih einen Stein in die Luft und die anderen versuchen, ihn mit ihren eigenen zu treffen. In diesem Moment schlägt Fatih die Idee eines „(An)Proberaums“ vor, in dem man bezahlen kann, um seine möglichen Zukunftsaussichten zu sehen, und wenn man zufrieden ist, kann man sich in das gewünschte Ergebnis „einloggen“. Im weiteren Verlauf der Geschichte diskutieren die Jungen, wie der „(An)Proberaum“ funktionieren würde und was er für diejenigen bedeuten könnte, die es wagen, ihn zu benutzen.

Die nächste Geschichte Traumnovelle hat scheinbar nichts mit der Idee der ersten zu tun. Erst als Dilek und die LeserInnen erkennen, dass die Zeit stehen geblieben ist, öffnet sich die Welt der Möglichkeiten, Dileks Möglichkeiten ihres vergangenen und gegenwärtigen Lebens. Angesichts der neuen Realität erscheinen die Entscheidungen, die sie trifft, schwer nachvollziehbar. Dilek beschließt, ein Bad zu nehmen, und stiehlt jemandem eine Uhr – eine völlig unvernünftige Entscheidung, wenn man bedenkt, dass die Zeit stehen geblieben ist. Ihre Vergangenheit zeigt jedoch, dass diese ruhige Putzfrau eine leidenschaftliche Leserin war, die erwog, in die Stadt zu ziehen, um dort ihre Ausbildung fortzusetzen. Saša Stanišić schafft es, im Laufe der Geschichte große Sprünge zu machen: von einer absurden Geschichte über die Bürste aus Ziegenhaar bis hin zu Dileks heimlichsten Sehnsüchten, die tief in ihrer Erinnerung verborgen sind, von Humor und Absurdität bis hin zu Traurigkeit und Enttäuschung.

Zwei weitere miteinander verbundene Geschichten, Es pfeift der Wind bei hohler See, nicht Mond, nicht Stern ist in der Höh‘, doch halten fest wir im Gesicht auf fernem Turm der Heimat Licht, wohin wir oft uns fanden und Der Hochsitz, schweben auf der schmalen Linie zwischen Realität und Fantasie. Während die erste, die vermutlich ein weiterer Kandidat für den Buchtitel war, zwischen Mitte der 1990er-Jahre und der Gegenwart hin und her springt, setzt die zweite die Geschichte mit ständigen Verweisen auf Heinrich Heines Werk fort. In diesen Geschichten macht Stanišić sein „Autoren-Ich“ zur Hauptfigur. Er berichtet von seinem Besuch auf Helgoland, einer einsamen Insel, die auch in Heines Werk Spuren hinterlassen hat. Auch hier ist sich der Leser nicht ganz sicher, wann die Geschichte von der Realität in die Fantasie übergeht und ob die Hauptfigur auf der Insel war beziehungsweise in welcher Rolle. Die Handlung folgt Stanišić als Jungen, der angeblich das Schild der ältesten Kneipe der Insel stiehlt, bis in die Gegenwart, wo die Kellnerin den erwachsenen Stanišić beschuldigt, dieses unverzeihliche Verbrechen begangen zu haben. Wo ist der Haken, könnte man sich fragen ‒nun, der Junge war noch nie auf der Insel. Dieser Tanz zwischen Fantasie und Realität, zwischen Stanišićs und Heines Literatur, zwischen Gegenwart und Vergangenheit lässt den Leser zwischen den Geschichten hin- und herspringen und ihn dabei über seine eigenen Erfahrungen mit Teenagerrivalitäten und junger Liebe nachdenken.

Die Titelgeschichte ist wahrscheinlich die beste des ganzen Buches. Möchte die Witwe folgt Gisel, deren Ehemann gestorben ist. Sie bleibt allein mit ihren eigenen Kämpfen des Alterns und dem Versuch, ihrem Leben einen Sinn zu geben, nachdem sie ihren wertvollsten Gefährten verloren hat. Diese zuweilen tragische, lächerliche und herzerwärmende Geschichte zeigt, wie Gisel ihr Leben selbst in die Hand nimmt, indem sie die kleinsten mutigen Taten vollbringt ‒wie das Gespräch mit einem interessanten Jungen, der Flug nach Norwegen oder das Platzieren der Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne.

In der letzten Geschichte Anprobe wird deutlich, dass alle Hauptfiguren beschlossen haben, Fatihs großartige Erfindung vom Anfang des Buches auszuprobieren. Sie alle werden mit einem möglichen Ergebnis für die Zukunft konfrontiert und müssen sich entscheiden, ob sie sich einloggen wollen oder nicht. Der vielleicht sympathischste Ausgang ist der des Autors, der als Fußballtrainer auftritt. In diesem Abschnitt seines Lebens gibt es jedoch, abgesehen von einem Notizbuch, keinen ausdrücklichen Hinweis auf seine zukünftige Schriftstellerkarriere. Es erweist sich, dass ein Moment des Lebens nicht repräsentativ für das Ganze ist.

Saša Stanišić hat ein weiteres Werk vorgelegt, das uns dazu zwingt, unseren Alltag, unsere Handlungen, Umstände und Menschen, die wir als selbstverständlich betrachten, zu hinterfragen und auch das, was uns letztendlich wirklich glücklich macht. Ausgehend von altbekannten Themen des Lebens in Deutschland wie zum Beispiel Recycling, politische Diskussionen und Fragen der Migration (und damit des Spracherwerbs, der in Stanišićs Werken oft als literarisches Motiv auftaucht) schildert der Autor die gegenseitigen Kämpfe der einfachen Menschen.

Danica Trifunjagić

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