Wolfgang Martin Roth: Die Schuhe der Väter. Wien: Löcker Verlag 2023. 346 S.

Protagonist und Erzähler der Geschichte ist Bodo, das mittlere von insgesamt vier Kindern, geboren und aufgewachsen im Göttingen der 1950er-Jahre. Seine Geschichte ist besonders beeindruckend, da er in einer siebenbürgischen Familie geboren und aufgewachsen ist. In den ersten Kapiteln des Romans erfahren wir, dass der Haushalt eher traditionell geprägt ist: Der Vater und zugleich Oberhaupt des Hauses ist ein angesehener siebenbürgischer Pfarrer, während die Mutter eine gewisse Distanz zu den Familienmitgliedern hält und fromm ist. Unter dem Einfluss der äußerst strengen Eltern werden Bodo und seine Geschwister religiös erzogen, die Forderung des Vaters nach Gehorsam hat dabei einen hohen Preis. 

Den Hintergrund des Romans ergibt ein spezifischer sozialer und historischer Kontext: Die Geschichte spielt im Nachkriegsdeutschland und stellt die nachhaltigen Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf den Einzelnen und die Gesellschaft als Ganzes zur Schau. Dieser Hintergrund verleiht der Geschichte mehr Tiefe und ermöglicht den Lesern einen Einblick in die Herausforderungen, mit denen die Figuren konfrontiert sind. Die Handlung des Romans spielt in der Gegenwart in der Nähe von Göttingen, von wo aus uns der nun rentierte Protagonist in seine Kindheit zurückführt. Er ist nur eins der vielen Kinder siebenbürgischer Eltern, die ins nationalsozialistische System verwickelt waren und der als Erwachsener verzweifelt versucht, sich mit dieser Realität abzufinden. Der Autor konfrontiert uns gekonnt mit der Komplexität des Weltkriegs: Sein zunächst eher naiver Protagonist stellt schließlich fest, dass Geschichte statt schwarz-weiß nuanciert zu sehen ist. 

Der Schock als bestimmendes Phänomen zieht sich durch den gesamten Roman und bestimmt sowohl den Krieg als auch die Realität der Nachkriegszeit. Es ist ein Schock, der durch das Verschweigen von Fakten, durch Lügen und Gewalt entsteht und als tragisch empfunden wird. 

Die wechselnden politischen Allianzen, Widerstandsbewegungen, die Verfolgung von Juden und anderen Minderheiten, die Teil der siebenbürgischen Bevölkerung waren, sowie die Folgen der Nachkriegszeit haben tiefe Spuren hinterlassen. Wie tief sie tatsächlich sind, zeigt der Roman, indem er die Folgen von Generation zu Generation schildert, egal wie sehr man versucht, ihnen zu entgehen. Der Autor verwendet eine Vielzahl von Metaphern und Symbolen, um diese Idee zu vermitteln: Die Schuhe der Väter symbolisieren das Erbe einer Vergangenheit voller Schrecken, Schuld und Scham, das noch die Enkel und Urenkel mit sich tragen und verarbeiten müssen. Die letzte Predigt des siebenbürgischen Familienvaters erklärt genau dieses Phänomen: „Ich höre die letzte Predigt meines todkranken Vaters aus dem Jahr 1956 bis zum Schluss, sie hat eine Wucht und Eindringlichkeit, die mich schockiert. Sie ist ein einziger Bußruf auf die Deutschen, ein Aufruf zur Umkehr zu Gott, verknüpft mit der latenten alttestamentlichen Drohung, dass die Sünden der Väter noch die dritte und vierte Generation heimsuchen würden“. (S. 317f.) 

Die Schuhe der Väter stehen auch für die Lasten und Erwartungen, die Kinder von ihren Eltern erben. Dieses Motiv wird durch die Schilderung der Familiendynamik und der daraus entstehenden Konflikte zwischen den Generationen verstärkt. Der zentrale Konflikt entfaltet sich zwischen Bodo und seinem Vater, die fehlende Offenheit und Kommunikation sowie die unterschiedlichen Ideologien erschweren die Verständigung. Der erwachsene Protagonist erkennt, dass es noch viele ungelöste Probleme gibt, darunter das Aufwachsen in Furcht vor Strafe, mangelnder Fürsorge und der Angst, die väterliche Erwartung zu enttäuschen. 

Im Verlauf der Geschichte wird dem Leser immer deutlicher, dass der vom Vater eingeforderte und durch körperliche Züchtigung erzwungene Respekt widersprüchliche Folgen hatte. Der Neid zwischen den Geschwistern und sogar die Rivalität waren das Ergebnis einer ungleich verteilten Zuneigung der Eltern. Roth zeigt auf einfache, aber eindrucksvolle Weise, wie kleine Gesten in der Kindheit eine starke Bedeutung in sich tragen. Was in den ersten Jahren indoktriniert wird, ist im späteren Leben bestimmend. Alle Lebensbereiche – Freundschaft, Partnerschaft, Arbeit – sind mit den Ideologien und Erfahrungen aus der Kindheit verbunden und von ihnen beeinflusst. Der Protagonist Bodo erkennt mit Schrecken: „Ich zittere vor Wut, als ich endlich weitergehe und mich frage, was mit mir nicht stimmt. Ist das mein geerbter siebenbürgischer Rassismus? Was kommt da so plötzlich über mich? Mit Grausamkeit kenne ich mich aus, das weiß ich heute. Ich war ihr nicht nur ausgesetzt, sondern habe auch gelernt, grausam zu sein“. (S. 287) Auch die Worte von Bodos Schwester spiegeln diesen Gedanken wider, als sie über die eigene Mutter spricht: „,Du hast ihre Nähe gemieden.‘ ,Immer. Ihr Verhältnis zu ihrer eigenen Mutter war schließlich auch gestört‘“. (S. 219) 

Das Bedürfnis nach Anerkennung und Akzeptanz wird als Teil der kindlichen Natur dargestellt. Die Familie, in die man hineingeboren wird, ist der Anfangs- und Endpunkt, der den Charakter formt. Roth als Psychoanalytiker versäumt es nicht hervorzuheben, wie verankert die jeweiligen Vorstellungen, denen man als Kind ausgesetzt wird, im erwachsenen Menschen doch sind. So gibt Bodo mit einer Spur von Groll zu: „,So war ich eben. Ich war ein Sohn meiner Eltern: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm‘“. (S. 214) 

Das zentrale Thema des Romans – Identität beziehungsweise Selbstfindung – verleiht der Handlung Komplexität und macht die Geschichte auf einer menschlichen Ebene liebenswert und nachvollziehbar. Man könnte das Buch als Familienroman bezeichnen, vor allem, weil er sich um Klarheit des Einzelnen und zwischen den Geschwistern bemüht. Persönlich würde ich diesen Roman auch als historischen bezeichnen, da er einen bestimmten Abschnitt der Geschichte darstellt und verarbeitet. 

Der Stil von Wolfgang Martin Roth zeichnet sich durch Eloquenz und eindrucksvolle Beschreibungskraft aus. Durch seine anschaulichen Darstellungen kann sich der Leser die im Buch beschriebenen Schauplätze vorstellen und Emotionen nachempfinden. Die von Roth gewählte Erzählperspektive, die Verflechtung von Vergangenheit und Gegenwart, Kindheit und Alter, schafft einen geschlossenen Kreis, der ebenfalls zur Wirksamkeit der Geschichte beiträgt. 

Überraschende Wendungen, der bittersüße Beigeschmack, der daraus entsteht, dass ein Sohn die guten Seiten seines längst verlorenen Vaters findet, die Vergebung und Verbundenheit zwischen Geschwistern über den gemeinsamen Schmerz, das Glück und letztlich die Versöhnung machen diesen Roman berührend und nachvollziehbar. 

Die Schuhe der Väter ist die fesselnde Geschichte einer Familie, die die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erlebt und unter deren Folgen gelitten hat. Es handelt sich zugleich um eine tiefgreifende Analyse darüber, wie sich elterliche Erwartungen, etwa die, dass das Kind Teil einer kulturellen oder ethnischen Gruppe wird und deren Sitten pflegt, auf das Kind und sein späteres Erwachsenenalter auswirken. Was bleibt, ist das verzweifelte Bedürfnis, sich mit der eigenen Realität und seinem Erbe auseinanderzusetzen, was jeder Mensch anders macht, wie der Autor auf eindrucksvolle Weise zeigt. 

Das Werk ist jedem zu empfehlen, der sich für die komplizierte Geschichte der Verbindung zwischen Siebenbürgen und NS-Deutschland sowie für die Ideologien und die alltäglichen Praktiken in einem siebenbürgischen Haushalt interessiert. Als berührende Familiengeschichte eignet es sich auch für Leser, die sich für zeitlose Themen wie Familie, Partnerschaft, Freundschaft und Verlust interessieren. 

Von Sofija Krstić

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