Das Transkript zum Mitlesen

Mehrsprachiges Temeswar

Ich bin wieder einmal in Temeswar, mit meiner Frau und mit meinem langjährigen Kollegen und Freund Konrad Gündisch. Beim Hereinfahren in das Stadtgebiet hat uns das viersprachige Schild empfangen. Rumänisch: Timișoara, Deutsch: Temeswar, Ungarisch: Temesvár, Serbisch: Temišvar. Mehrsprachige Ortsschilder kenne ich seit meiner Kindheit aus Südtirol, später habe ich sie in Irland, in Ostfriesland und in der Oberlausitz kennengelernt. Hier, in Temeswar, sind die Schrifttypen alle in der gleichen Größe gehalten. Die symbolische Botschaft ist eindeutig – die Stadt gehört allen vier Sprachgemeinschaften gleichermaßen.

Zum Kulturhauptstadtjahr 2023 hatten Konrad und ich eine Kleine Stadtgeschichte von Temeswar verfasst. Die gedruckte Ausgabe, erschienen im Verlag Friedrich Pustet, ist nach zwei Jahren vergriffen und ein Nachdruck nicht mehr vorgesehen. Auf Deutsch ist das Buch deshalb auch nur noch als E-Book erhältlich. Doch in der Zwischenzeit ist es auf Initiative von Bürgermeister Dominic Fritz und der örtlichen Tourismusagentur übersetzt worden und im Verlag der Westuniversität auf Rumänisch erschienen. Ein Anlass für zwei Buchvorstellungen der rumänischen Version im Tourismusbüro der Stadt sowie in der Bibliothek der Westuniversität. Wir haben diesen Aufenthalt mit einer privaten Rundfahrt durch das südliche Banat verbunden und auch für Temeswar selbst etwas Zeit eingeplant.

Trompeter, Stadtrat und Hotelier

Nach unserem ersten nachmittäglichen Erkundungsgang durch die Innere Stadt lade ich ein paar Foto-Impressionen bei Facebook hoch. Prompt erhalte ich eine Nachricht von einem langjährigen Freund, dem Schriftsteller Uwe von Seltmann: „Wenn Du beim Trompeter vorbeikommst, grüß meinen Vorfahren, den Trompeter, Hotelier und Stadtrat Johann Anton Seltmann!“

Aus dieser Nachricht resultiert ein kleiner spontaner Programmpunkt auf dem Stadtspaziergang am nächsten Morgen, nach vorausgegangener kurzer Online-Recherche: Tatsächlich hat Johann Anton Seltmann, Angehöriger des deutschen Stadtrats von Temeswar, im Jahr 1751 beim Magistrat beantragt, ein „Eck-Einkehr-Wirtshaus, zum Trompeter genannt“, führen zu dürfen. Ein ungarischer Nachbesitzer des Etablissements gestaltete das Gebäude im Jahr 1894 um. So hat es sich bis heute erhalten, auch wenn es längst nicht mehr als Hotel funktioniert. Das neobarocke Gebäude mit seiner imposanten, kuppelartigen Eckbekrönung befindet sich an einer prominenten Stelle in der Inneren Stadt, an der Kreuzung der Strada Eugeniu de Savoya und der Strada Episcop Augustin Pacha, nur zwei Häuserblocks vom zentralen Domplatz, der heutigen Piața Unirii, entfernt. Gekrönte und nicht gekrönte Häupter sollen in dem Hotel vom 18. bis ins 20. Jahrhundert übernachtet haben. Es galt lange als der beste Beherbergungsbetrieb der Stadt. Heute wird das Gebäude anderweitig genutzt, im Parterre ist noch immer eine Gaststätte untergebracht. Aus deren Räumen dröhnt laute Musik, so dass wir darauf verzichten, hier einen Kaffee zu trinken. Für Uwe von Seltmann, den Nachfahren des Trompeters und Stadtrats aus dem 18. Jahrhundert, nehme ich aber noch ein paar Fotos des Gebäudes auf und schicke sie ihm später zu. Diese Hausgeschichte ist eine der unzähligen kleinen Episoden, die sich um die große Stadtgeschichte herum spinnen.

Ein serbischer Schneider

Wir sind inzwischen weiter durch die Gassen geschlendert. Die Innere Stadt folgt in der Anlage der Straßen noch immer dem absolutistischen Ordnungsschema des 18. Jahrhunderts. Damals ist Temeswar als habsburgische Festungsstadt von Grund auf erneuert worden. In der Stadt lebten seinerzeit Deutsche, Rumänen, Ungarn, Serben und Juden auf relativ engem Raum zusammen. „Hier war einmal das serbische Viertel“, erklärt uns der Schneider Milan, mit dem wir ins Gespräch gekommen sind. Er hat seine Werkstatt in einem der zahlreichen Innenhöfe, die man von den Gassen der Inneren Stadt aus durch gewölbte Toreinfahrten betritt. Milans Werkstatt, ein kleiner quadratischer Raum mit barockem Stuckdekor, war einmal eine serbisch-orthodoxe Kapelle, wie er uns stolz erklärt. In den vier Ecken befinden sich Fresken mit Allegorien der vier Jahreszeiten. Eine kleine serbische Fahne und ein Porträt des Erfinders Nikola Tesla markieren den Ort symbolisch. In der Werkstatt liegt ein Geruch von Stoff und Nähmaschinenöl in der Luft. Milan hat ein gelbes Maßband um seinen Hals gelegt, die beiden gleich langen Enden liegen auf seinem Oberkörper auf. Dieses Maßband ist Werkzeug und Statussymbol zugleich. Wäre ich noch etwas länger in Temeswar, ich würde möglicherweise bei Milan einen Maßanzug oder ein Sakko in Auftrag geben. Diese Stücke säßen bestimmt wie angegossen. Der Preis wäre allerdings, dass ich mir beim Ausmessen und Anpassen noch weitere seiner etwas kruden Geschichtstheorien anhören müsste. Schneider, bleib‘ bei Deinem Maßband, möchte man ihm sagen. Und doch: Milan spricht neben seiner serbischen Muttersprache auch fließend Rumänisch. Deutsch und Ungarisch versteht er zumindest. Mit dieser Mehrsprachigkeit im Alltag ist Milan ein typischer Temeswarer. Diese gelebte sprachliche Flexibilität macht das besondere Flair dieser Stadt aus.

Zwei konkurrierende Domkirchen

Zwei Häuserblöcke weiter erhebt sich die serbisch-orthodoxe Kathedrale von Temeswar. Sie bildet mit dem Gemeindehaus und der Schule einen geschlossenen architektonischen Komplex. Ich muss gestehen, dass es mir die um die Mitte des 18. Jahrhunderts erbaute serbisch-orthodoxe Kathedrale ganz besonders angetan hat. Schon von außen gibt sie sich bescheiden, mit ihren beiden eleganten Kirchtürmen. Auch im Innern spricht mich die spätbarocke und klassizistische Ausstattung besonders an. Die Ikonostase und auch die übrigen Gemälde blenden nicht vor dem sonst üblichen Gold, sondern sind in dezenten Farben gehalten. Sie bringen den Gläubigen die biblische Geschichte nahe, ohne sie vor Ehrfurcht in die Knie zu zwingen. Die luftige, im Wesentlichen ornamentale Deckenmalerei flankiert diesen hellen und freundlichen Gesamteindruck.

Überquert man die Piața Unirii, vorbei an der unlängst restaurierten Dreifaltigkeitssäule, geht man auf die Doppelturmfassade des barocken römisch-katholischen Doms zu. Seine beiden Türme sind vermutlich deshalb so gedrungen gehalten, weil Temeswar zur Erbauungszeit des Doms Festungsstadt war und die Türme nicht allzu hoch aufragen sollten, um für eine feindliche Artillerie keinen Angriffspunkt zu bieten. Bei der 2023 abgeschlossenen Restaurierung des Doms hat man vor seinem Eingang eine Tafel in den Boden eingelassen, auf der zu lesen steht, das Gotteshaus sei ein Werk des österreichischen Baumeisters Johann Bernhard Fischer von Erlach. Dieser verbreiteten These habe ich bereits in der kleinen Stadtgeschichte widersprochen. Ich kenne zumindest drei Sakralbauten Fischer von Erlachs: die Karlskirche in Wien, die Kollegienkirche in Salzburg und die Wallfahrtskirche Maria Kirchental im Pinzgau. Das sind drei geniale architektonische Raumlösungen, an die der Temeswarer Dom keineswegs heranreicht. Ich weiß, dass er für die katholischen Temeswarer ein ganz wichtiger Bezugspunkt ist und deshalb auch auf den meisten deutschen Temeswar-Monografien abgebildet worden ist. Mir ist auch bewusst, dass es sich um eine der größten Barockkirchen in Südosteuropa handelt. Der Dom enthält im Innern einige sehr qualitätvolle Altargemälde, doch insgesamt fehlt mir insgesamt das Erhabene der sonstigen Kirchen Fischer von Erlachs. Mit seinem im Verhältnis zur Breite sehr niedrigen Gewölbe passt sich der Temeswarer Dom in die Militärarchitektur des 18. Jahrhunderts ein – er ist eine zweifelsohne ordentliche Leistung eines barocken Baumeisters, aber keine wirklich einnehmende Architekturlösung. Erstaunlicherweise hat man in Temeswar auf die Entwürfe manches Stadtpalais und manches Privathauses im 18. Jahrhundert weit mehr Ehrgeiz gelegt als auf den zentralen Kirchenbau.

Die verschwundene osmanische Stadt

Die barocken Bauten in Temeswar verbinden die Stadt mit dem Kernbereich der einstigen Habsburgermonarchie. Trotz späterer Eingriffe in das Stadtgebiet, auch am Domplatz, ist die barocke Stadtanlage noch immer ein zentrales Ordnungsprinzip. Die Baumeister des Klassizismus, des Eklektizismus und schließlich der ungarischen Sezession hatten ein Gespür für harmonisches Nebeneinander von alt und neu. Im 18. Jahrhundert ist man hingegen in Temeswar nicht sorgsam mit Vorgefundenem umgegangen. Von der Stadt unter osmanischer Herrschaft, die etwa in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts der österreichische Reisende und Kundschafter Heinrich von Ottendorf mit Wohlwollen beschrieben hatte, sind heute nur noch einige wenige Mauerreste erhalten. Außerdem eine in osmanisch-türkischen Lettern gestaltete Inschrift, die einst einen Hamam, ein Badhaus, zierte, und seit dem 18. Jahrhundert wie eine Trophäe in den Sockelbereich der Rathausfassade am ehemaligen Paradeplatz, der Piața Libertăți, eingemauert ist. Von den osmanischen Moscheen sind nur einige Fundamente übriggeblieben, auch wenn sie in den Jahren nach der Einnahme durch den Prinzen Eugen von Savoyen-Carignan in christliche Kirchen umgewandelt worden waren. Die im 18. Jahrhundert von den Habsburgern betriebene antitürkische Propaganda erlaubte es ganz offensichtlich nicht, diese Gebäude zu erhalten. In anderen Regionen des ehemaligen Königreichs Ungarn, die bereits früher von den Habsburgern eingenommen worden waren, war man wesentlich toleranter: In Fünfkirchen/Pécs stehen bis heute zwei ehemalige Moscheen, in Erlau/Eger hat sich immerhin ein Minarett erhalten, um nur zwei Beispiele zu nennen. In Temeswar hat man „Tabula rasa“ gemacht, und es blieb kaum ein Stein auf dem anderen. Die osmanische Geschichte vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, eine durchaus vielfältige Geschichte, sollte aus dem Gedächtnis der Stadt gelöscht werden.

Erinnerte und vergessene Protagonistinnen und Protagosten

Die Stadt Temeswar hat eine lange zurückreichende Geschichte – eine mittelalterliche im Königreich Ungarn, eine frühneuzeitliche im Osmanischen Reich, eine neuzeitliche in der Habsburgermonarchie und eine neuere und neueste Geschichte in Rumänien. Diese Geschichte verbindet sich mit zahlreichen Ereignissen und Persönlichkeiten. Das öffentliche Gedächtnis der Stadt, das sich etwa in Denkmälern, Gedenktafeln und Straßennamen artikuliert, hat allerdings nur eine selektive Auswahl aus diesem Fundus getroffen. Nichts erinnert heute an Pelbart de Temeswar, jenen im Jahr 1435 in Temeswar geborenen Franziskanermönch, dessen gedruckte Predigten zu theologischen „Bestsellern“ im religiös polarisierten Spätmittelalter wurden. Vermutlich ist über seinen Namenszusatz „von Temeswar“ der Stadtname überhaupt erst ins Bewusstsein vieler Menschen im damaligen Europa gelangt. Keine Straße und keine theologische Fakultät heißt heute in Temeswar nach ihm.

Pelbart teilt dieses Schicksal mit einer Reihe von anderen Frauen und Männern, die mit dieser Stadt verbunden waren. Kein osmanischer Dichter wird heute öffentlich gewürdigt, und auch die gebürtige Rheinländerin Johanna von Honrath ist im öffentlichen Bewusstsein nicht präsent. Sie war die erste Jugendliebe Ludwig van Beethovens und heiratete später den österreichischen Offizier Carl von Greth. Als dieser als Festungskommandant nach Temeswar versetzt wurde, begleitete sie ihren Mann dorthin. Nach ihrem Tod im Jahr 1823 fand sie zunächst ihre letzte Ruhestätte in der Piaristenkirche. Als diese zu Beginn des 20. Jahrhunderts erneuert wurde, wurden ihre sterblichen Überreste auf den kommunalen Friedhof umgebettet. Über dem Sammelgrab wurde ein Gedenkstein mit einer Namenstafel aufgestellt. Seit mehreren Jahren ist nun diese Tafel verschwunden, so dass man lange nach dem Grab suchen muss, da kein Wegweiser oder kein Grundrissplan auf seine Lange hinweisen. Johanna von Greth ist damit bisher nur Experten der Temeswarer Kulturgeschichte bekannt.

Ein Wind der Freiheit

Ein kühler Ostwind weht an diesem Aprilabend in Temeswar. Wir sitzen geschützt auf einer Caféterrasse am Ostende des Domplatzes. Über den Türmen der gegenüberliegenden serbisch-orthodoxen Kathedrale senkt sich die Abendsonne, die den Himmel in alle möglichen Rottöne taucht. Zeit, um über meine Eindrücke nachzudenken, das Erlebte noch einmal Revue passieren zu lassen und zu sortieren. Temeswar ist auf jeden Fall eine Reise wert. Anders als manche Europäische Kulturhauptstädte der vergangenen Jahrzehnte war „Temeswar 2023“ kein rasch aufloderndes Grasfeuer, das ebenso rasch wieder verloschen ist. Die Europäische Kulturhauptstadt konnte 2023 auf einer bereits vorhandenen regen Kulturszene aufbauen; ihr Logo schmückt noch immer städtische Kulturprogramme und ist damit zu einem grafischen Identifikator geworden. Und welche Stadt in Europa beherbergt schon drei Staatstheater – ein rumänisches, ein ungarisches und ein deutsches? Geschichtspolitisch erfolgreich wirbt die Stadt auch mit ihrem Ruf, im Dezember 1989 der Ausgangspunkt jener politischen Bewegung gewesen zu sein, die zum Sturz der kommunistischen Diktatur in Rumänien beigetragen hat. Es bleibt zu hoffen, dass diese Selbstzuschreibung als „Stadt der Freiheit“ Temeswar auch in der aktuellen Gegenwart immun macht gegen neue Formen des Autoritarismus, die heute das Funktionieren und das Zusammenwachsen Europas hemmen und letztlich in Frage stellen.

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