Die Moderne lebt | Zsuzsanna Gahse: Zeilenweise Frauenfeld | Besprechung
von IKGS München
Geboren wurde Zsuzsanna Gahse in Budapest. Nach den Ereignissen von 1956 emigrierte ihre Familie nach Wien. Fortan bewegte sie sich in einer deutschsprachigen Welt, zu der man bekanntlich auch das Wienerische rechnet. In einem Interview hat sie das so beschrieben: „Ein unvergessliches Erlebnis war es, ins Deutsche vorzupreschen. Wie in eine Wolke ging ich in die Sprache hinein, und diese Wolke riss immer mehr auf, und dann konnte ich in der neuen Sprache frei herumspazieren. Unvergesslich ist das Gefühl dieser Unabhängigkeit, nach etwa einem halben Jahr. Aber das Aufreissen der Wolken hört nie auf. Ganz gleich, wie gut man eine Sprache kennt. Auch über meine zehn chinesischen und die fünfzig russischen Wörter bin ich glücklich. Sprachen sind Ausdrucksmöglichkeiten. Jede einzelne Sprache ist eine Möglichkeit“.
2. Juli 2024Zsuzsanna Gahse: Zeilenweise Frauenfeld. Wien: Edition Korrespondenzen 2023. 151 S.
In Zeilenweise Frauenfeld schreibt sie: „[…] und was heißt Muttersprache! Wieso tritt dieser Begriff immer so zweifelsfrei an! […] Insgesamt alle Sprachen heißen Muttersprache“. (S. 139; S. 144) Bald nach der Gymnasialzeit, in der sie ein Deutschlehrer zum Schreiben ihres ersten und einzigen Romans ermuntert hatte, ging Zsuzsanna Gahse nach Deutschland. Und kam, mit diversen Zwischenstationen, irgendwann an Neckar und Nesenbach. Das Feuilleton der Stuttgarter Zeitung bot ihrem Schreiben ein Forum, Hannelore und Heinz Schlaffer machten ihr Mut. 1983 erschien das Prosawerk Zero, vom kongenialen Lektor Hansjörg Graf im damals noch existierenden List Verlag betreut und sogleich von bekannten Kritikern hoch gelobt. Zsuzsanna Gahse bekam den Aspekte-Literaturpreis des ZDF und war plötzlich eine allseits bewunderte und begehrte Schriftstellerin.
Ihre Texte, die von Liebe und Einsamkeit, von Leichtigkeit und Melancholie, oft auch von Heimatlosigkeit und Heimatsuche handeln und auf ganz ungewöhnliche Art und Weise Szenen des Alltags schildern, sind keine im Sinne des 19. Jahrhunderts runden, abgeschlossenen Geschichten. Eher Entwürfe. Oder Skizzen. Die Autorin hat die Literatur der Moderne des frühen 20. Jahrhunderts genau studiert und dabei ihren ganz eigenen Schreibstil ausgebildet – einfache Handlungen, einfache Syntax und meist auch einfaches Vokabular, fragmentarische, mehrfach gebrochene, keinesfalls eindimensional strukturierte Prosagebilde. Immer wieder, wenn sie nach ihren Vorbildern befragt wird und in ihren Antworten Boccaccio oder Cervantes, E.T.A. Hoffmann, Hugo von Hofmannsthal oder Federico García Lorca herausstellt, wird sie einen Namen nicht vergessen: Gertrude Stein, die „Mutter der Moderne“. Hinter deren Schreibstil kann man, da ist sich Zsuzsanna Gahse ganz sicher, nicht mehr zurück. Auch wenn viele Leserinnen und Leser das gerne hätten. Mit diesem künstlerischen Selbstverständnis schreibt man keine Bestseller. Doch genau damit entstehen Prosatexte höchster Qualität, die ästhetisch auf der Höhe der Zeit sind. Die Erzählung Berganza zum Beispiel (1984) oder die in Stadt, Land, Fluss versammelten Geschichten (1988), die Passepartout-Prosa (1994) oder der Kellnerroman (1996), der ebenso wenig ein umfangreicher Roman ist wie ihr viel späteres Werk Oh, Roman (2007). Oder Siebenundsiebzig Geschwister (2017), ein bunter Teppich voller Vielfalt, Spiel und Sprachlust: „Es geht auch anders, / aber so geht es auch“. Nicht zu vergessen durch und durch (2004), ihr neben den Donauwürfeln (2010) vielleicht eindringlichstes Werk. So richtig dicke Bücher gibt es von Zsuzsanna Gahse nicht. Nur gute.
Die vielfach ausgezeichnete Dichterin, die seit Jahren im schweizerischen Thurgau lebt, hat jedenfalls in ihren mittlerweile mehr als dreißig Buchveröffentlichungen immer wieder bewiesen, dass die künstlerische Moderne des 20. Jahrhunderts keineswegs überholt und allemal zur Inspiratorin heutiger Avantgarde-Literatur geeignet ist. Ihr in vielerlei Hinsicht anregendes, heiteres und höchst vergnügliches Textgebilde Zeilenweise Frauenfeld entwickelt die Grundzüge ihres literarischen Schreibens weiter – wobei „entwickeln“ hier bedeutet, dass sie ihren eigenwilligen Schreibstil durch neue, ungewöhnliche Sprachvariationen und Formalia bereichert. Nicht ohne Witz natürlich: „Davon später mehr. Dieser Satz ist ein Zitat“. (S. 10) Zeilenweise Frauenfeld ist kein Roman, auch keine Erzählung, sondern ein luftiges, experimentelles Spiel mit der Sprache und insofern auch nicht nacherzählbar – eine Inhaltsangabe ist fast unmöglich. Die Nicht-Nacherzählbarkeit ihrer Prosa und die beabsichtigten Genreirritationen sind Markenzeichen dieser ungewöhnlichen Poetin. Sie selbst nennt ihre Prosaminiaturen „Störe“, und diese „Störe“ bewegten sich „zwischen langen Erzählweisen und Gedichten, zwischen Essays und Novellen, szenischen Texten und Performance-Vorlagen“. So auch hier. Am augenfälligsten im neuen Buch ist das zeilenweise Schreiben mit seinen Leerzeilen nach jedem Satz oder Halbsatz. Es führt zu langsamerem und intensiverem Lesen – aber nicht nur. Es ist auch Ausdruck eines phänomenologisch exakten Beobachtens, das die Lesenden dazu zwingt, mögliche Verbindungen zwischen den Sätzen selber herzustellen. Auch wenn es beim ersten Lesen manchmal so scheint – in beliebige Assoziationen verliert sie sich nicht. Es gibt Verbindungen, und es gibt auch einen Gesamtzusammenhang. An ganz anderer Stelle schreibt Zsuzsanna Gahse: „Gebündelte Erzählweisen haben einen inneren Zusammenhang. Eine Anhäufung von beliebigen Assoziationen ist eine Anhäufung und nicht mehr“.
Die Autorin, stets sprachreflektiert und gelegentlich ihrem Hang zu etymologischen Tiefenanalysen der von ihr benutzten Wörter nachgehend – „Ich sehe Wörter gerne in ihrem Larvenzustand, wie sie früher aussahen und was sie bedeuteten“ (S. 73) –, notiert entspannt und exakt zahlreiche Einzelbeobachtungen aus dem Alltagsleben des Thurgauer Städtchens. In der „konzentriert kleinen Ortschaft“ (S. 126) leben die dunkelhäutige Fotografin Manu, ihr Freund Sam, der Wetterexperte Lucian und die Erzählerin selbst. Sie interessieren sich ganz besonders für die Frauen, auch für Frauenfiguren aus vergangenen Zeiten. „[…] und dann und wann ein Mann“. (S. 106) Für ihre Mimik und Gestik, für ihre Augen, für ihr Lachen, für ihre Frisuren, für ihre Farben – für Farben überhaupt. (S. 102) Alles ist einmalig und gegenwärtig – „Nichts ist wie. Das vergleichende Wie muss abgeschossen werden“. (S. 59) Die Innenstadt, der Marktplatz und die umliegenden Passagen wie die Rheinstraße, der Bahnhofsplatz, der Fluss Murg und seine Uferpromenaden ergeben das Bühnenbild, vor dem ganz unterschiedliche Figuren auf- und wieder abtreten. „Unklarheiten spielen sich von sich aus ein.“ (S. 12) Die Figuren werden, erzähltechnisch betrachtet, als „Module“ oder „Modelle“ verstanden (S. 39), „fast jeder ist ein Schauspieler“. (S. 27) Sie reden über den ausbleibenden Regen, überhaupt gern über das Wetter. Es passieren Unfälle, jemand stürzt und muss im Notarztwagen abtransportiert werden. Jemand stirbt. Zufall? Mit großer Leichtigkeit verknüpft Zsuzsanna Gahse ihre wortwitzigen Prosaminiaturen mit dem Genre des Kriminalfilms. Ihre Einzelbeobachtungen können in „Befragungen“ (S. 34) übergehen, sogar in ein „Verhör“ (S. 51) – beim Erzählschema „Krimi“ (S. 37) werden hier etliche Anleihen gemacht. Die Beobachterin sieht sich durchaus auch „als verdeckte Ermittlerin“ (S. 9), dem verwirrenden Alltagsleben auf der Spur. „Es wird hier definitiv eine Krimiserie geben. Keinen Tatort, sondern eine Staffel mit dem Titel ‚Der Frauenfeld-Krimi‘.“ (S. 123)
Was geschieht in Frauenfeld wirklich? Was geschieht überall auf der Welt? Denn dieses Frauenfeld mit seinem heißen und zu trockenen Sommer, mit seinen scheinbar willkürlich herumstromernden Figuren und seinen überall herumschwirrenden Wörtern, dieses Frauenfeld ist überall. Zeilenweise Frauenfeld ist ein ungewöhnliches Panorama unserer Gegenwart, wie man es so noch nie gelesen hat. Zsuzsanna Gahse beweist einmal mehr: Die Moderne lebt.
Von Klaus Hübner
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