Klara Blum: Der Hirte und die Weberin. Mit einem Essay von Julia Franck (Die Andere Bibliothek, Bd. 463). Berlin: Aufbau Verlage GmbH & Co. KG 2023. 311 S.

„Der Literaturgeschichte ist sie eine Unbekannte“ – stellt in ihrer Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur1 Sandra Richter fest. Vielleicht war dieser Umstand für Julia Franck und Rainer Wieland vor allem bestimmend gewesen, um den vor mehr als siebzig Jahren im Rudolstädter Greifenverlag erschienenen Roman Klara Blums Der Hirte und die Weberin (1951) in die bibliophile, seinerzeit von Hans Magnus Enzensberger begründete Buchreihe Die Andere Bibliothek aufzunehmen und als Band 463 neu herauszugeben. 

Die am 27. November 1904 im damals noch habsburgischen Czernowitz (ukr. Tscherniwzi, rum. Cernăuți) geborene Klara Blum ging nach der Scheidung der Eltern mit ihrer Mutter nach Wien, wo sie Psychologie studierte, sich aktiv an der feministischen Bewegung beteiligte und für zionistische und sozialistische Zeitungen zu schreiben begann. 1933 gewann sie mit ihrer Ballade vom Gehorsam den Preis der Internationalen Vereinigung revolutionärer Schriftsteller, der ihr eine zweimonatige Reise in die Sowjetunion einbrachte. Sie ging nach Moskau, knüpfte dort Kontakte zu den Exilzeitschriften Das Wort und Internationale Literatur, die J.-R. Becher und W. Bredel herausgaben, nahm 1935 die sowjetische Staatsbürgerschaft an und wurde in den sowjetischen Schriftstellerverband aufgenommen. Von 1939 bis 1944 veröffentlichte sie in sowjetischen Verlagen fünf Gedichtbände und galt bald als eine der begabtesten Stimmen der jungen Generation der deutschen antifaschistischen Literatur. 

Ende 1937 geschah im Leben von Klara Blum ein Ereignis, das ihre bisherige Existenz mit einem Schlag radikal änderte – sie verliebte sich leidenschaftlich in den als politischer Emigrant in Moskau lebenden chinesischen Kommunisten und Theaterregisseur Zhu Xiangcheng. In ihm fand sie den erträumten Lebenspartner, mit dem sie sich auf der gleichen geistigen Augenhöhe als freie, emanzipierte Frau fühlte. Aber nur drei knappe Monate waren den beiden vergönnt – im Frühjahr 1938 verschwand ihr Geliebter spurlos unter rätselhaften Umständen. Erst Jahrzehnte später hat sich herausgestellt, dass er Opfer stalinistischer Säuberungen wurde und in Januar 1943 in einem sowjetischen Lager in Sibirien starb. Da sie über seine konspirative Arbeit im Auftrag der Kommunistischen Partei Chinas informiert war, nahm sie an, er sei von der Parteiführung mit einem geheimen Auftrag nach China zurückberufen worden und beschloss, ihm zu folgen. Unter unglaublichen Entbehrungen gelang es ihr über Warschau, Prag, Budapest, Bukarest und Paris Ende August 1947 Schanghai zu erreichen. Um die quälende Trennung einigermaßen zu kompensieren, lernte sie Chinesisch, erwarb die chinesische Staatsbürgerschaft und änderte ihren Namen in Zhu Bailan (Weiße Orchidee). 

Die Geschichte dieser lebenslangen, doch nie ganz erfüllten leidenschaftlichen Liebe schildert die Schriftstellerin eindrucksvoll in ihrem Roman Der Hirte und die Weberin. Der Roman ist eine fiktionalisierte Autobiografie der Autorin, die hier unter dem Namen Hanna Bilkes erscheint (der Name ist wohl der Erzählung Nach höherem Gesetz von Karl Emil Franzos aus seinem Buch Die Juden von Barnow entlehnt). Darin erinnert eine im galizischen Drohobycz geborene, in Wien aufgewachsene und wegen ihrer kommunistischen Überzeugung in Moskau lebende deutsch-jüdische Dichterin an Klara Blum. Die Namensänderung der Protagonistin erlaubt der Schriftstellerin eine gewisse Freiheit bei der narrativen Entfaltung der Handlung, indem sie viele Episoden und Szenen mit ihren Visionen im Sinne der revolutionären Umwandlung gesellschaftlicher Verhältnisse hinzuschreibt. Der Roman spielt zuerst in Moskau, dann in einigen chinesischen Orten (Schanghai, Peking und andere), im Grunde folgt er den realen Ereignissen im Leben der Autorin. Die meisten biografischen Begebenheiten ihres Geliebten sind dagegen fiktionalisiert, zum Beispiel sein hypothetisches Tagebuch oder seine fast imaginäre, geheimnisvolle Rückkehr und ein kurzes Treffen von beiden am Ende des Romans, das nur wenige Stunden dauert und eher eine Wunschvorstellung der Erzählerin als ein wirkliches Wiedersehen ist. Als Motto steht hier der Dreizeiler, der einige Male an verschiedenen Stellen des Romans auftaucht und den verborgenen Sinn dieser absoluten Liebe intoniert: „Jahrelange Trennungszeit, / Kurze Stunde nur zu zweit / Und geliebt in Ewigkeit!“. (S. 76; 157; 207) 

Das den Roman durchdrängende Trennungsmotiv der Verliebten kommt sowohl in der Folklore als auch in der Literatur vieler Völker vor. Bei Klara Blum geht dieses Motiv auf ein chinesisches Märchen zurück, das Nju-Lang Hanna Bilkes bereits am Anfang ihrer Liebesbeziehung in Moskau erzählt. Es handelt sich um zwei Sternbilder am nördlichen Himmel, die den Europäern als Adler (Aquila) und Leier (Lyra) bekannt sind. Für Chinesen sind diese Sternbilder ein Liebespaar – der Kuhhirte Nju-Lang und die Weberin Dshe-Nü. Mit diesen Namen werden im Weiteren die beiden Protagonisten des Romans poetisch assoziiert: „Nju-Lang und Dshe-Nü lieben einander, aber zwischen ihren Dörfern fließt die Milchstraße, und sie müssen ihre Arbeit getrennt vollbringen. Nur einmal im Jahr, am siebenten Abend des siebenten Monats, bilden die Himmelsvögel eine Brücke, eine schwirrende, farbige Brücke aus Vogelschwingen, und die beiden dürfen einander in die Arme stürzen“. (S. 74) Diese märchenhafte Metaparabel ist das poetische Symbol für die leidenschaftliche Liebe und das entbehrungsreiche Schicksal der Romanfiguren, die immer getrennt bleiben müssen. 

Die innere Kraft und poetische Ausstrahlung des Romans liegen vor allem in der Idee einer allumfassenden und bedingungslosen Liebe, die imstande ist, alle Hürden und Schranken zu überwinden. Diese Grundidee, die sich von der chinesischen Volkslegende nährt, impliziert schon an sich die Tragik dieser Liebe, indem Hanna ihr Liebesgefühl ins Absolute transferiert – wegen konspirativer revolutionärer Arbeit Nju-Langs ist das Liebespaar geradezu prädestiniert, immer getrennt zu bleiben. Diese absurde dogmatische Forderung bildet eher den unvermeidlichen Tribut der revolutionären Romantik der Zeit als eine rational begründete Notwendigkeit und wird somit als inhuman, unmenschlich empfunden. 

Die ersten Worte, die Nju-Lang bei ihrem Wiedersehen nach elf Jahren Trennung an seine Geliebte richtet, klingen beinahe höhnisch: „Hanna, du weißt, dass wir uns morgen wieder trennen müssen“. Worauf Hanna antwortet: „Ich weiß es. Und ich bin einverstanden“. (S. 270) Unfassbar, wenn man daran denkt, wie viele physische und moralische Strapazen sie dieses Wiedersehens wegen erleiden musste! In der letzten, etwas konstruiert wirkenden und doch ergreifenden Szene des Romans, in der sich beide nach vielen erbärmlichen Jahren endlich treffen, heißt es: „Da stand sie nun, am Ziel und doch nicht am Ziel, eingeschlossen im köstlichen Ring der Umarmung, den sie elf Jahre lang entbehrt hatte, und morgen wieder entbehren sollte, vielleicht monatelang, vielleicht jahrelang und vielleicht bis ins Alter und vielleicht bis in den Tod“. (S. 270f.) Diese Schlussszene stellt die Kulmination und zugleich die Lösung des Konflikts dar. Die von außen, von der revolutionären Ethik her aufgezwungene ewige Trennung der Verliebten, in der das lebendige menschliche Gefühl so erbarmungslos-brutal einem asketisch-revolutionären Prinzip geopfert wird, klingt kaum glaubhaft. Die ideologische Sturheit der Autorin hat ihrer dichterischen Begabung keinen guten Dienst geleistet – sie machte sie blind und taub für stalinistische Säuberungen in der Sowjetunion, deren Gipfel gerade in die Zeit fällt, in der sie sich in Moskau aufhielt und über die sie in ihrem Roman kein Wort verliert, obwohl sie letztendlich ihr menschliches Glück und ihr Leben zerstörten. Auch andere wichtige politische Zeitgeschehnisse – wie der Anschluss Österreichs oder der Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion – klammerte sie aus, indem sie auf diese Ereignisse nur einsilbig oder gar nicht reagiert. 

Trotz solch einer linientreuen Position Klara Blums war die Erstpublikation des Romans im ostdeutschen Greifenverlag mit spürbaren Schwierigkeiten verbunden. Das bereits gedruckte Buch wurde einer strengen politischen Zensur unterzogen und beinahe verboten. Vor allem die Figur von George Montini, eines einflussreichen Funktionärs der Komintern im Moskauer Exil, den Hanna als einen intriganten Antisemiten schildert (als Prototyp diente hier der österreichische Kulturbolschewist Ernst Fischer), bildete einen Stein des Anstoßes. Weitere Vorwürfe waren die starke Betonung des jüdischen Elements und die kaum schmeichelhafte Darstellung des gesamten Moskauer Emigrantenmilieus. Nur die Intervention des damaligen DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck, den Klara Blum aus der Moskauer Zeit persönlich kannte, rettete die Publikation. Eine zweite Auflage des Romans wurde allerdings gestrichen, obwohl später noch zwei Bücher der Autorin in der DDR herausgebracht wurden – der Novellenband Das Lied von Hongkong (Rudolstadt 1959) und eine kleine Gedichtauswahl unter dem Titel Der weite Weg (Berlin 1961). 

Erhebliche Probleme spürt der Leser dieses Romans vor allem bei zahlreichen chinesischen Namen und Realien, mit denen die Autorin gar nicht spart. Obwohl sie lateinisch transkribiert und auch in ihrer metaphorischen Semantik im Text oft erklärt werden (Nju-Lang – der Kuhhirte, Dshe-Nü – die Weberin, Mee-Tssjing – die Schöne Melodie, Tzai-Yün – die Leuchtende Wolke, Mee-Chua – Pflaumenblüte usw.), fällt es einem europäischen Leser nicht leicht, sich in diesem fremdartigen Namengewirr, das hier in alter Transkriptionsordnung vorliegt, die Klara Blum in ihrem Buch verwendete, zu orientieren. Manchmal überzieht oder verschiebt die Autorin einzelne Fakten (das imaginäre Treffen Nju-Langs mit Dshou En-Lai in Paris stimmt zeitlich nicht überein) oder verwechselt etliche Kulturrealien („Gajaneh“ ist keine Oper, sondern ein Ballett des armenischen Komponisten Aram Chatschaturjan). 

Mit ihrem Roman Der Hirte und die Weberin gewährt uns Klara Blum einen Einblick in die stürmische Periode chinesischer Geschichte während des Übergangs vom Guo-Min-Dang-Regime zur kommunistischen Herrschaft. Vor unseren Augen entfalten sich politische Kämpfe zwischen der Nationalen Partei von Tschiang Kai-schek und den Kommunisten, die Entbehrungen des Bürgerkrieges, der Sieg der Befreiungsarmee unter Mao Zedong, die Bodenreform und andere für China schicksalhafte Ereignisse. Aber auch der Alltag, das familiäre Leben in der Stadt und auf dem Lande, Sitten und Bräuche, Theater, traditionelle Feste der Chinesen finden hier ihre gebührende Darstellung. Mit ihrem Roman stellt sich Klara Blum in die Reihe der deutschsprachigen Schriftsteller wie Franz Carl Weiskopf, Egon Erwin Kisch oder Otto Braun, die etwa um dieselbe Zeit mit ihren Reisebeschreibungen und Reportagen über China hervortraten. Sie ist aber die Einzige, die darüber in belletristischer Form erzählt hat. Wegen problematischer Publikationsgeschichte durfte das Buch in der DDR nicht besprochen werden, erst nach vielen Jahren erschien im Greifenalmanach auf das Jahr 1958 eine verspätete Rezension Lion Feuchtwangers, in der der Roman als eine „große Ballade“ gepriesen, zugleich aber auch manches „Leitartikelhafte“ daran getadelt wurde. 

Wie fast alle Bände der limitierten Bücherreihe Die Andere Bibliothek ist auch dieser künstlerisch geschmackvoll gestaltet und extra nummeriert. Zum unbestreitbaren Gewinn der Ausgabe gehört das profunde 30-seitige Nachwort der Herausgeberin Julia Franck. Am Ende dieses aufschlussreichen Essays steht eine wichtige Beobachtung: „Aus heutiger Perspektive kann man den Roman als frühes Dokument der eigensinnigen und kämpferischen Bildung eines antirassistischen Konzepts lesen“ (S. 305) – eine These, die die Aktualität des Romans für die heutige Zeit begründen will. Mit keinem Wort wird aber darin erwähnt, dass der Roman bereits 2001 von der in Klagenfurt lebenden Literaturwissenschaftlerin Zhidong Yang im Rahmen ihrer kommentierten Auswahledition des Werks der Dichterin im Böhlau-Verlag publiziert wurde. Auch die 1996 bei Peter Lang in Buchform erschienene Dissertation dieser Forscherin Klara Blum – Zhu Bailan (1904–1971). Leben und Werk einer österreichisch-chinesischen Schriftstellerin wird verschwiegen, obwohl der Essay viele Informationen diesem Buch verdankt. Nur an einer Stelle (S. 297) wird ihr Name flüchtig als „Biographin“ der Dichterin erwähnt, ohne diesen Hinweis kontextuell oder bibliografisch zu konkretisieren. Solch ein Verschweigen wirkt zumindest irritierend.

Petro Rychlo

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