Dämonen der Vergangenheit: Verständnissuche und Selbsterkenntnis | Peter Becher: Unter dem Steinernen Meer | Besprechung
von IKGS München
Im Prager Vitalis Verlag ist in deutschsprachiger Originalversion ein Roman erschienen, der von seinem literarischen Gewicht her, markant aber auch durch Thema und Aussage, Beachtung verdient. Der Verfasser Peter Becher hat langjährig den Münchner Adalbert-Stifter-Verein geleitet und eine gut lesbare Stifter-Biographie (2005, 2017, tschechisch 2019) verfasst. Wiederholt ist er mit Essay- und Feuilleton-Sammlungen sowie historischen und literaturgeschichtlichen Studien zur deutsch-tschechischen Spuren- und Verständigungssuche hervorgetreten.
2. Juli 2024Peter Becher: Unter dem Steinernen Meer. Ein deutsch-tschechischer Roman. Prag: Vitalis Verlag 2022. 195 S.
Unter dem Steinernen Meer, sein erster Roman, erschien in Bechers 70. Lebensjahr. Und der hat es in sich: Wenn es ein Indiz literarischer Karätigkeit ist, dass sich ein Werk kaum bei erster Lektüre ausschöpfen lässt, dass jedes Wiederlesen weitere Bezüge und Finessen erschließt, dann gilt das für das vorliegende. Der Titel bezieht sich auf das chaotisch gleich dem ausgeschütteten Baukasten eines Riesenspielzeugs niedergestürzte Felsblockgewirr dieses Namens (tsch. Pod Kamenným mořem) unter dem Plöckenstein im Dreiländereck zwischen Deutschland, Tschechien und Österreich. Die Naturkulisse zwischen den Wäldern, die Literaturfreunden aus den Erzählungen wie aus der Biografie Adalbert Stifters vertraut sind (genannt werden das Rosenbergergut und die Lackenhäuser, der Plöckensteinsee und der [Stifter-]Obelisk, im nahen Dichter-Geburtsort Oberplan [tsch. Horní Planá] findet die zentrale Auseinandersetzung statt), symbolisiert das innere Zentrum des Romangeschehens. Hier hatte der Protagonist der Erzählung, das schwächliche Budweiser Arztkind Karl Tomaschek, mit seinen deutschen Wandervogel- und Turnerschaftskameraden im August 1935 ein Ferienlager mit einer „Gelobt sei, was hart macht“-Erziehung erlebt, wobei die prägendsten Erlebnisse die halb spielerischen, halb bereits nationalchauvinistisch ausartenden Wimpelklau-Aktionen, Armdrück- und Gesang-Auseinandersetzungen mit der benachbart zeltenden ebenfalls Budweiser tschechischen Sokol-Jugendgruppe waren, zu der auch „Karlis“ bester Freund, Arztsohn wie er, Jan (Kosename „Honza“) Hadrava gehörte. Mit ihm hatte er 1936 eine Radtour nach Berlin unternommen, wo sie Zaungäste der von den Nazis inszenierten Olympischen Spiele wurden.
Im April 1945 hatte auf der Lichtung unterm Steinernen Meer die blutige, für Tomaschek traumatische Wiederbegegnung stattgefunden. In der Zeit zwischen dem Münchner Abkommen und der Hitler-Annexion der „sudetendeutschen“ Randgebiete der Tschechoslowakischen Republik, dann nach Kriegsbeginn mit der deutschen Einverleibung des Reststaats (mit Budweis, tsch. České Budějovice) ins „Reichprotektorat Böhmen und Mähren“ und der grausamen Verfolgung von Tschechen und Juden war er als Sanitätssoldat eingezogen worden. Als nach der Kriegswende die Racheaktionen der Tschechen an den Deutschen, die sich im Land als „Herrenmenschen“ aufgespielt hatten, mit deren Ausgrenzung, Flucht oder Vertreibung begannen, konnte er zusammen mit seiner Schulzeit-Geliebten Lenka Pokorná, der draufgängerischen Freundin von Hadravas Schwester, bis kurz vor die Grenze zum amerikanisch besetzten Bayern fliehen. Sie gehörte nun, obwohl Tschechin, zu den Verfolgten, hatte sie sich doch nach der Liebesepisode mit ihm einem schneidigen SS-Mann zugewandt und war deshalb von ihren Landsleuten zusammengeschlagen, kahlgeschoren und erniedrigt worden. Unterm Steinernen Meer aber wurden die beiden Flüchtenden von einem Trupp tschechischer Partisanen aufgegriffen, in dem sie mit Entsetzen nicht nur den fanatischen Ideologen der Sokol-Jugend Holub, sondern auch den Kindheitsfreund Jan Hadrava wiedererkennen mussten. Die „SS-Hure“ war von den Partisanen brutal vergewaltigt und dann erschossen worden, Karl hatte entkommen können.
Erst Karl Tomascheks dritte Wiederkehr in die Region „unter dem Steinernen Meer“ jedoch wird im Roman durchgängig erzählt, während die hier in groben Umrissen rekonstruierte Vorgeschichte samt ihren in der Memoria und Historiographie beider Völker umstrittenen politischen Rahmenbedingungen nur in Rückblenden aufgerufen wird. Im Juli 1990, als nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die mehr als vier Jahrzehnte hermetisch geschlossene Grenze wieder überschreitbar wurde, hatte sich der gealterte Arzt ohne Ankündigung oder Erklärungen gegenüber seiner österreichischen Frau und den beiden Söhnen wieder in die Gefilde seiner Jugend aufgemacht. Diese „Wanderung in die Vergangenheit“ (S. 28) führt den auf seinem Weg fortschreitend Verstörteren durch das veränderte und ihm fremd begegnende Land vom Grenzübertritt über Oberplan und Krumau (tsch. Český Krumlov) bis ins einst heimische Budweis. Der von erschreckenden Begegnungen und den Furien des Erinnerten Getriebene fällt dort in ein Nervenfieber und muss notfallklinisch behandelt werden. Über die Motivationen und das Erleben seiner Wanderung bewahrt er weiter eisernes Stillschweigen. Weder die Ärzte noch der den Genesenden abholende Sohn können sich „einen Reim machen“ auf die „tschechischen Worte ‚ale nemůžu, nemůžu …‘“ (S. 12), die der Patient im Delirium gelallt hatte ‒ und nur aufmerksam Lesende begreifen, dass er dies in seiner Seelennot gestöhnt hatte, als die Partisanen ihn zwingen wollten, an dem erst hier ‒ 158 Seiten später ‒ im Zusammenhang erzählten Gräuel der Lenka-Vergewaltigung mitzutun, ehe Holub sie erschossen hatte: „Nemůžu, nemůžu“, „das geht nicht, ich kann nicht“. (S. 170) Die Zeitsprünge, mit denen sich die Vergangenheit ‒ politisches wie persönliches Erleben ‒ durchs aktuell Begegnende achronologisch in die Erinnerung des Wanderers hineindrängt, sind sorgfältig so komponiert, dass sich daraus ein zunehmend komplettes Mosaik des Vorgeschehens, zugleich ein Geschichtspanorama zusammensetzt.
Die Erzählung offenbart ein Bündel verschränkter Motive, das den Tiefverstörten angetrieben hat. Verpflichtend empfand er ein Versprechen, das er einem Schwerstverwundeten in den letzten Kriegstagen im Budweiser Lazarett gegeben hatte. Der hatte ihm sterbend unter Verweis auf den rätselhaft auf der Rückseite eines übergebenen St.-Thomas-Heiligenbilds verschlüsselten Fundort ein Nazi-Raubgold-Versteck angedeutet, und er hatte versprochen wiederzukommen. Doch nicht allein die „lächerliche“ Schatzsuche (S. 135) hatte ihn auf seinen Weg getrieben, sondern ein unbestimmter Wunsch nach Rache und die Suche nach einer Verarbeitung seines Jugenderlebens.
Dazu nun bietet ihm sein Gewaltmarsch reichlich Gelegenheit: In Oberplan, wohin ihn die Suche nach dem kryptisch angezeigten Goldversteck führt, begegnet er nicht nur Holub wieder, sondern auch dem einstigen Freund Jan Hadrava. Den hatten die Zeitläufte hierher verschlagen ‒ eigene kommunistische Parteigenossen hatten ihn als Sympathisanten des Prager Frühlings um seinen Posten gebracht und in das Dorf verbannt, wo er sich nun als Fremdenführer zu den Stifter-Gedenkstätten durchbrachte. Die harte Aufrechnung der beiden, was alles den Tschechen von den Deutschen und später den Deutschen von den Tschechen angetan wurde ‒ häufig aktiv, bisweilen aber auch nur in unbewusstem Ausnutzen von Konjunkturen, durch Gleichgültigkeit oder Wegschauen ‒, die Konfrontation der unterschiedlichen Sichtweisen auf dieselben Geschichtsereignisse und Erlebnisse bilden den Kern dieses Buches. Ein Ausgleich und wirkliches Verständnis füreinander erreichen die beiden nicht, aber das Innewerden der relativen Berechtigung in der Sicht des je Anderen erschüttert doch mit dem aufgestauten Hass auch die starren Vorurteile und Selbstgerechtigkeiten. So erfährt Tomaschek erst jetzt, dass in der Konfrontation unter dem Steinernen Meer Hadrava, der Lenka nicht hatte helfen können, ihn selbst vor der Erschießung durch Holub bewahrt hatte. Er erfährt auch von dem Schicksal seiner jüdischen Klassenkameradin Elsa Adler, in die Hadrava damals verliebt war und deren Verlust er nie verschmerzen konnte: Zwar hatte Tomaschek sie 1942 nicht durch einen Bestechungsversuch an einem zum SA-Mann gewordenen Turnerkameraden vor der Deportation retten können, sie war aber nicht wie die meisten jüdischen Mitschüler und Lehrkräfte in der Shoah untergegangen. Vor kurzem war sie, die schon damals unschlagbare Stifter-Kennerin, in einer israelischen Gruppe ebenfalls davongekommener aus Böhmen stammender Besucherinnen hier nochmals aufgetaucht ‒ und gemeinsam im Kopf bewahrte Stifter-Sätze führten zum Wiedererkennen mit Hadrava. Der aber hatte ebenso einsehen müssen, dass er sie, die durch die Zeit eine Andere Gewordene, ebenso verloren hatte, wie auch Tomaschek die Erkenntnis nicht erspart blieb, dass die vormalige Heimat nicht mehr die seiner Erinnerungen, vielmehr unumkehrbar verloren war.
Parallel mit dem schrittweise entgleitenden Bewusstsein in der Überreizung seiner Nerven (bei der erfolglosen Schatzsuche, dann besonders beim Eintreffen in Budweis, wo sich ihm die Brunnenfiguren am Ringplatz in die „Dämonen der Vergangenheit“ verwandeln, S. 150, S. 152)d gewinnen die Figurationen von Hadravas Erleben einen ebenso surrealen Anstrich wie die Gestalt des mehrfach an historisch neuralgischen Stellen des Romans auftauchenden Unheilspropheten Schweijda, den die Nazis bei seinem Erscheinen auf ihrem hakenkreuz-beflaggten Parteitag zusammengeschlagen und auf Nimmerwiedersehen abgeführt hatten, ohne doch die Erfüllung seiner Warnungsreden verhindern zu können.
Tomascheks „Höllenfahrt durch die Vergangenheit“ (S. 149) führt ihn in ein Haus, an dessen Wänden er die tschechische Geschichte der letzten sechzig Jahre bis hin zu Vaclav Havel, dem Protagonisten eines Ausgleichs und einer hoffnungsreich-demokratischen Zukunft, abgebildet findet. Dort aber begegnet ihm ein „Pater Holý aus Prag“, und der erzählt ihm, weil er es gut mit ihm meine, die Parabel „vom verlorenen Vater“, der „dachte, in seine alte Heimat zurückkehren zu können. In Wirklichkeit hat er seine Söhne verlassen und seine alte Heimat nicht gefunden, weil sie längst nicht mehr existierte“. (S. 149f.) Anders als der verlorene Sohn des Lukas- und Markus-Evangeliums konnte er „keine Versöhnung finden“, „weil er sie dort gesucht hat, wo er sie nicht mehr bekommen konnte, und dort verweigert hat, wo er sie hätte haben können“. (S. 150)
Diese Episode verbindet die Erzählachse der Wanderung mit dem darumgelegten, bei oberflächlicher Erstlektüre funktionsarm erscheinenden Erzählrahmen. Der Anfang und der Schluss des Buches führt in den Mai 1991 in die Steiermark, wo Tomaschek bei einem Winterausflug in der Heimat seiner Frau bald nach seiner Rekonvaleszenz von der Budweiser Nervenkrise im Schnee erfroren war, und zu seiner Beerdigungsfeier, bei der seine beiden Söhne vergeblich über ihn und über die Gründe seiner eisigen Verschlossenheit über das Vergangene rätseln. Tyrannisch und lieblos hatte er besonders den Älteren bei seinem Versuch einer Erziehung zur Härte behandelt, sodass sich der seinem Einfluss entzogen, gegen die starr nationalkonservativen Ideale des Vaters zum Sozialdemokraten geworden war (daher von ihm als „Zeitgeistzwerg“ und „Friedenstrottel“ beschimpft wurde, S. 16, S. 19) und sich auf eigene Faust zum Jurastudium und in eine Rechtsanwaltslaufbahn gewendet hatte. Sein weicherer, Mediziner gewordener Bruder, der unter der Unzugänglichkeit des Vaters litt, begibt sich nun anlässlich seines Begräbnisses selbst auf Kindheitsspurensuche. Im Mutmaßen darüber, was zu der geheimnisvollen Wanderung in die böhmische Heimat, von der der Vater doch nie gesprochen hatte, getrieben haben könnte, können beide nicht zur Klarheit kommen.
Dass ein Buch der Versöhnungssuche zwischen im historischen Nexus zu Feinden Gewordenen, in dem so schonungslos und unparteiisch wie möglich aufgerechnet wird, was sie einander, beidseitig schuldig werdend, an Grausamkeiten und Unmenschlichkeiten zugefügt haben, heute in einem tschechischen Verlag in deutscher Sprache erscheinen und grenzüberschreitend reichen Widerhall finden konnte, ist ein gutes Zeichen für den Abbau von Traumata und verbesserten Chancen zu mutuellem Verstehen. So möchte man diesen mit der Abbildung des Samson-Brunnens inmitten des Budweiser Ringplatzes auf dem Cover schön ausgestatteten Roman in möglichst viele Hände wünschen.
Von Hans-Jürgen Schrader