Die innere Au | Alexandru Bulucz: Stundenholz | Besprechung
von IKGS München
Im Schöffling Verlag erschien in diesem Jahr der neue, dritte Gedichtband des Berliner Lyrikers, Essayisten und Herausgebers Alexandru Bulucz Stundenholz. Der Autor wurde 1987 im rumänischen Alba Iulia (dt. Weißenburg) geboren, er zog im Alter von dreizehn Jahren nach Deutschland.
27. Februar 2025Alexandru Bulucz: Stundenholz. Gedichte. Frankfurt/Main: Schöffling 2024. 144 S.
In Stundenholz thematisiert der Dichter vor verschiedenen Folien der Auseinandersetzung vermittels lyrischem Ich, eingeschobenen Miniaturessays, Kommentaren einige konkrete Verwerfungen zwischen persönlicher Erfahrung und allgemeiner Erfassung. Ein Personal aus Weggefährtinnen und -gefährten, Verwandten wie Begegnungen mit Gegenständen bis in die Wortebene – das Begegnen von Worten im Sprachenaustausch hat es Bulucz offenkundig angetan – füllt die Abteilungen des Gedichtbands. Derer gibt es insgesamt zehn, die in ihren Längen variieren. Grafisch stellt sich bei dem Taschenbuch eine Art Daumenkino beim Blättern ein, auf der jeweils rechten Seite wirbeln die Hölzer eben jenes (Comic-)Stundenholzes. Dieses ist übrigens ein aus vorherigen Werken Bulucz’ bekanntes Sujet.
Der Band eröffnet mit Realien, Michael Jordans „MOVE“ bei Poetry in Motion vs. Monks Sinn gegen den Gegensinn (S. 7, S. 9), beides nicht ohne jeweiliges Vorwissen einzuordnen, durch die direkten Kommentare jedoch wird die Verbindung zur TV-Serie respektive dem Sportwissen nachgereicht, erste autobiografische Fäden damit geknüpft. Es folgen die ersten Lektüren, die wiederum ohne Hintergrundwissen nicht jeweils sofort entschlüsselbar sind: „Eine Art REM, // also paradoxer Schlaf, in dem der Schmerz schmerzt / u. vom Beschmerzten augenblicklich verwertet wird / zu Kunst.“ (S. 12), später Fortschreibungen der Mythen des Alltags Roland Barthes’. (S. 13) Die Wort- und Lautverschiebungen, die ähnlich bereits andere Arbeiten des Dichters prominent gemacht haben, folgen im Abschnitt Paranomasien. Darin, in durata, durere (S. 20): „u. auch auf Rumänisch // liegen Dauer u. Schmerz beieinander“. Eine erste Wortbegegnung beziehungsweise Rückverführung wahlverwandter, eher sprachwurzelverwandter Denkbilder, zum Beispiel Rumänisch, Latein, die Bulucz immer wieder in seinem Verfahren neu aufrufen wird. Auffällig ist die häufige Verwendung von Abkürzungen, sowohl im Gedicht als auch im essayistischen Textmodus, an diesen wie anderen Stellen: Das „u.“, „o.“, „unwahrsch.“ etc. zieht sich durch auf beinahe jeder Seite im Band, deutet auf eine allfällige Flüchtigkeit hin, vielleicht auch Verstummen. Dazu: „Die Identifikation mit den Opfern aus meiner Alterskohorte / u. Herkunftslandschaft ist zu groß, als dass ich sprechen sollte / darüber“ (S. 23), eine Setzung im Spiegel von historischen Abtreibungsdiskussionen „Dekret 770“ (ebd.), die ebenfalls Informationen außerhalb des Gelesenen voraussetzen, sodass sich die Hilfscollage der eigenen Erläuterungen ergibt. Insa Wilke drückt es auf dem Buchumschlag „für die Jury des Bachmann-Preises“ so aus: „Die Gleichzeitigkeit von Fragilität und Souveränität, von Weltwissen, politischem Denken und philosophischer Erfahrung hat uns beeindruckt“.
Die erste Primärlyrik, wenn man so sagen kann, das heißt Text, der vornehmlich mit lyrischen Mitteln arbeitet und auskommt, beginnt im Abschnitt Übergangszeit. (S. 29) Hier verknüpfen sich autobiografische Bestandteile miteinander, wie auch in dem darauffolgenden Abschnitt. In Kreischqueller Heuweg (S. 37) wird mit den höheren, älteren Sprachregistern gespielt, wenn es heißt: „u. reichlich Polenta, die glänzte im Teller so hold“. Das Gedicht deutet sich im Anschluss „vom poetischen Wesen“ (S. 38) selber aus, spricht allerdings von „einem lyrischen Ich“, behauptet einen ethnogeographischen Standpunkt und „könnte sich zu einem Zyklus auswachsen“. (S. 39) Ein interessantes Gedicht wird Zur Herstellung von Hausseife auf dem Gehöft (S. 41), das eine gerade Linie zieht zur „Asche des Waschens“. Schließlich: „Wie könnte ich die Gewandtheit / unserer Gesten beschreiben?“ (S. 45), eine bukolische Szenerie aus jenem Gehöft wird in Reliquien, Requisiten umschrieben, ein längeres Poem, das dennoch analytische Register aufzieht, in Erinnerung arbeitet: „als ich die Schulferien u. Wochenenden auf dem Gehöft verlebte […] nehme ich die Zeit zusammen, / […] komme ich auf ein halbes Jahr“. (S. 46) Es verschmilzt die eigene Erfahrung mit einer dokumentarischen Allegorie, das Ich als Gehöft, in das die Details unter anderem der Großmutter Majka münden, später in „Erinnerungskrümel“ (S. 54) die Episode vom „Stiefvatergroßvater“, die an den Patriarchen des Gehöfts erinnert, der betrunken den Abhang hinunter kullert und in einem Bach bei niedrigstem Wasser ertrinken muss. Die Lesenden werden gesiezt, „Sehen Sie“ (S. 56), für archetypisch folkloristisch anmutende private Momente zum Beispiel jener Majka: „Sehen Sie? Sie trug sommers keine Unterwäsche // unterm Rock. Sehen Sie das unverschämte, vorkopernikanische / u. hündisch sein Revier markierende Glück“. (S. 56) Die Gedichte laufen in eine Gerätehaftigkeit, eine Perspektivemaschine, die sich ausgestellt geometrisch, mit gesuchter Sprache in der Jetztzeit verwirklicht, wenn nicht ein-nordet, könnte man sagen, „bis zu seiner Auflösung – / das Paradies bleibt mir verschlossen“. (S. 60) Mythologische Einhöhungen säumen jenen Heuweg an, „So o. so: Die drei Zinken biegen sich / ins ausgeweidete Weidetier, / so wie der spitze Schnabel des Adlers / sich in die Leber des Prometheus bohrt“. (S. 66f.)
Nach einem eigenen Ausdruck, er fällt wiederum als ein essayistisch gehaltener Kommentar zu den Gedichten im Anschluss, liege „das Daktylische dem Erzählerischen [seiner] Gedichte“ (S. 75), das den Dichter mit Strenge aus einer Schreibblockade hat lösen können. Als Beispiel dafür mag die Schlussstrophe aus Traum vom Angelhaken als Köder (S. 77) dienen, bei der die Zwänge des Metrums ablesbar werden: „Klatschten wir gegen den Boden / durch unserer Fischkörper heftiges Zappeln / mit offenen Mäulern zu jüngeren Krängeln / auf kreisender Suche?“, später: „Hände in den Hosentaschen wie Anker am Gewässergrund“ (S. 93), oder das häufiger bemühte „Kartendienst eines Onlinegiganten“. (S. 101) Motive des Feuers, in Das Feuer (S. 87), finden Erwähnung durch Referenzen zu Arcimboldi und Pink Floyd. Weitere Referenzen sind in Telenovelas zu finden (S. 88), „weshalb waren Arbeiterinnen so empfänglich dafür?“, „Zeitkritik, niedrigschwellig u. kitschig, doch immerhin eine / erste Stufe einer langen Treppe nach oben, die wir nahmen, / indem wir Spanisch lernten“. Der Abschnitt Trübendes Hell setzt die Brand- und Elektrizitätsthematik fort, im Gedicht Entdunkelt (S. 95) über die fahrlässigen Auswirkungen von Phosphordampf, Streichhölzern, Gasheizungen, Radiumuhren: „Kieferfraß nannte der Volksmund [es]“; darin auch erneut Bulucz’ Vorliebe für nachgestellte Genitivkonstruktionen: „Wie im Malunterricht, als der Schulpinsel Haar struppig ward“.
Das Zykluskapitel Außer Deutschland war kein anderes Land zeigt ambitioniertes Dichten zwischen Auftragsarbeit und eigener aktueller Verortung, zu Beginn in Stolperworte steht: „Verspürt ihr nicht auch manchmal den Drang, / etwas rückgängig zu machen, ungeschehen?“. (S. 99) Es geht unter anderem um jene Stolperworte, die mit nämlichen erforschte jüdische Schicksale in die Aufmerksamkeit zurückbringen. Der Bogen reicht zu Abschiedsgedichten vom Vater, der in einer ebenfalls schicksalhaften Episode ums lyrische Ich dieses mit dem „Deutschen Gruß“ zu greifen, seinerseits zu verorten versucht (S. 108), ein ziemliches Momentum, „indem sie [seine linke Hand] alle Kraft ihres kaputten Körpers zusammennahm“. (ebd.) Der Zyklus schraubt sich weiter, mit Bildern des Vaters als „der totale Integrator“ (S. 110), den kontroversen Bildserien eines Anselm Kiefer (S. 113) als Provokateur sowie den Verstrickungen Rumäniens in antisemitische Kollaboration, die im Folgenden immer beleuchteter gerät, so bei dem In-eine-Reihe-Stellen einer literarischen Außerrumänien-Rumänentradition von Cioran, Eliade, Ionesco, die Bulucz als „Triumvirat“ bezeichnet (S. 115) und als „gebrannte Kinder“ (ebd., bis S. 117). Auf Fragen einer literarisch-kulturellen Auswertbarkeit dieser jedoch, die ihre eigenen Verstrickungen bestritten oder Verleugnungen betrieben ihrer faschistoiden Vergangenheit, apostrophiert der Dichter ein klares „Jein!“ zur Antwort. (S. 117) Der tagebuchartige Zyklus läuft im Abschnitt X in ein Potpourri unverstellter Emotionen aus dem Alltag eines Lyrikers: „Ich muss meinen nächsten Auftrag absagen“ (S. 118), oder „der Tag begann mit einem Hochgefühl. Die / Frankfurter Allgemeine hat Baránczak besprochen, an dem ich / jahrelang gearbeitet, viel zu lange. … u. nun das“. (ebd.) Der Gesundheitszustand des Vaters hält das lyrische Ich in Atem. In Rumänien geblieben, scheint es offenbar jedoch mit „Elena“ eine Care-Arbeiterin zu geben, die sich der Pflege nun annimmt: „u. meine Dankbarkeit, dass sie das / verwindelte Dasein pflegt, sodass ich es nicht muss. Was ich ihr so / nicht sage, natürlich“ (S. 120), worin sich ein Wort wie „natürlich“ hier allerdings fast unnatürlich ausnimmt. Der Zyklus endet in einer weiteren Realie, „Popeye“, der folgendermaßen im prosaischen Zusammenhang stehe: „Die arme / Elena, die ihn wickeln muss. Sein Stuhlgang wird von dem Spinat u. / den ganzen Medikamenten grünflüssig sein. Dass er gern eine Pflanze / gewesen wäre, selbst wenn er bei einem Exkrement hätte Wache / halten müssen, nehme ich Emil Cioran nicht ab“. (S. 122)
Es folgen Gedichte um das titelgebende Stundenholz, darauf Bezug nehmende Prosa Vom Mobiliar des Celan’schen Gedichts, worin der Status dieses Gegenstands geklärt wird: „das Instrument ist in Rumänien derart gegenwärtig, dass das entsprechende rumänische Wort dafür, ,toaca‘, in eine Reihe von rumänischen Redewendungen Eingang gefunden hat und eng mit dem Zeitbegriff der rumänischsprachigen Welt verknüpft ist“ (S. 129); neben einer Tafelbild-Abbildung schließlich weitere etymologische Betrachtungen. Die beiden letzten Gedichte wollen einen Bogen ins Konkrete, ins Jetzige schlagen: „Wieder steht ein Umzug bevor, / bevor du richtig ankommen konntest. / In dieser Kriechgeschwindigkeit / kommst du niemals heim“ (S. 136), und in Rumänische Träume, dem Schlusstext des Bandes: „Träumte // von der Notwendigkeit, mit mir unbarmherzig zu sein“. (S. 137)
Dem Hölty-Preisträger Alexandru Bulucz gelingt ein Band mit viel Material, voller Selbstbewusstsein. Bisweilen läuft er auf einem schmalen Grat zwischen Lyrik und Prosa beziehungsweise Essay, obwohl Gedichte als Genre auf dem Buchumschlag solitär ausgewiesen ist, und auf einem schmalen Grat zwischen atavistisch mystifizierenden Sprach-Ducti und dem Tagebuch eines Schriftstellers, das häufig weniger Bilder dichterisch entstehen lässt denn Eigenheiten des Schreibens oder Stationen des Lebens in den Vordergrund stellt. Stundenholz hat Stile im Gepäck. Es ist für den Dichter Bulucz gewiss ein Schritt.
Jonis Hartmann