Mircea Cărtărescu: Theodoros. Roman. Übersetzung aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. Wien: Zsolnay 2024. 672 S.

Lediglich 13 Jahre war der Titelheld des Romans, Theodor II., Kaiser von Äthiopien. In den historischen Nachschlagewerken über den ostafrikanischen Binnenstaat füllt Theodor beziehungsweise Téwodros (1818–1868) nur wenige Zeilen. Cǎrtǎrescu entwarf ein 660-seitiges Epos, das von Zeit- und Raumsprüngen, historischen Abhandlungen, aber auch allegorischen und surrealen Passagen geprägt ist. In drei Teilen, die allesamt eine Namensvariation des Titelhelden darstellen (Tudor, Theodoros, Tewodoros) und in „vier Welten […] (Walachei, griechischer Archipel, Äthiopien und Judäa zur Zeit von König Salomon)“ (S. 664), wie der Autor selbst in der Schlussbemerkung schreibt, verschmelzen Geschichte und Fiktion, weltliches und geistliches Treiben zu einer gleichsam brutalen wie sentimentalen Lebensgeschichte.

Dass es sich hierbei nicht um eine Erzählung handelt, deren Ausgang offen bleibt, sondern um einen Roman im Stile einer Enthüllungsgeschichte, bei dem die Leser:innen vor allem an dem Wie der Handlungsweise und nicht zwangsläufig an dem Was der Handlungsinhalte interessiert sind, wird bereits auf den ersten Seiten erkennbar: „In nur dreizehn Jahren hast du das Volk des Kebra Nagast verstümmelt und deine Schatzkammern vollgestopft mit Schätzen, von denen nicht einmal ein Staubkorn mehr übrig bleiben wird, denn in wenigen Tagen schon werden Napiers Soldaten, bösartiger und barbarischer noch als die deinen, alles plündern, alles, alles, und deine drei Kronen werden dahin sein“. (S. 16) Das Kebra Nagast (auch Kebra Negest), das Königsbuch Äthiopiens, sowie der Verweis auf Charles James Napier (1782–1853), britischer General und Oberbefehlshaber der Britisch-Ostindischen-Handelsgesellschaft, eröffnen das Spektrum, innerhalb dessen sich die Lebens- und Leidensgeschichte des Theodoros abspielt. Die eingeflochtenen Bezüge zu Rumänien und dem Rumänischen sind für die Handlung selbst nicht essenziell. Dass der Titelheld (auch) rumänischer Herkunft gewesen sein könnte, habe – wie Cǎrtǎrescu selbst einräumt – „keine reale historische Grundlage, aber sie eröffnet die faszinierende Perspektive einer kontrafaktualen, fiktionalen, mythischen und archetypischen Geschichte, die sich bestens dazu eignet, Substanz eines Romans zu werden“. (S. 663) Außerdem erhöhen die zahlreichen Vokabeln, Sprichwörter oder Orte mit rumänischem Referenzfeld vermutlich das Identifikationspotenzial der adressierten Leser:innenschaft, die in einem zunächst fremd anmutenden Stoff des pseudohistorischen Romans auch etwas Eigenes zu finden vermag.

Neben diesen inhaltlichen Auffälligkeiten braucht es aufgrund einer monumentalen und ausufernden Erzählweise – deren Übersetzung von Ernest Wichner besondere Aufmerksamkeit verdient – ein wenig Geduld und Durchhaltevermögen, um sich in dieser Welt der Verästelungen zurecht zu finden. Belohnt werden die Lesenden mit einem geradezu atemberaubenden letzten Drittel, um dessen willen sich das Weiterlesen lohnt.

So fragt man sich zu Beginn etwa, weswegen die Geschichte des Theodoros im insistierenden „Du“ erzählt wird, der Sinn erschließt sich erst nach der Offenbarung der Erzählinstanz(en) im letzten Drittel des Romans. Berichtet werden die Abenteuer von König Salomon bis zum äthiopischen Kaiser des 19. Jahrhunderts aus einer gewissermaßen überzeitlichen, auktorialen und überirdischen Perspektive: „Du erinnerst dich nicht – wir aber erinnern uns auch für dich an alles, Theodoros, an jeden Augenblick aus deinem und dem Leben der Welt, denn wir, die wir uns so weit oberhalb eures blauen Gewölbes befinden, wir können die Geschichten auch aus der Zeit noch sehen, als sie alle eine waren“. (S. 68)

Die über den irdischen Gefilden schwebende Erzählinstanz verbleibt jedoch keineswegs im Hintergrund. Immer wieder sind es Kommentare, Wertungen und Perspektivierungen, für die die Lesenden nach den starrköpfigen Handlungen eines tyrannischen Herrschers dankbar sind:

„Wir schreiben deine Geschichte in den Himmeln so auf, wie sie sich auf Erden abspielt, damit sie beim Jüngsten Gericht getreulich vorgelesen werden kann, und darum wäre es von Vorteil – angesichts solch einer beängstigenden Gelegenheit –, wenn wir steinerne Herzen hätten, aber unsere Herzen sind weder aus Stein noch aus Eis, und wir sind manchmal weinend und manchmal lachend aufgewacht, und waren oftmals erschüttert vor Entsetzen, wenn wir von oben her auf deinen Lebensfaden schauten, denn dein Gewissen ist äußerst wechselhaft, Theodoros“. (S. 486) Das wechselhafte Gemüt teilt sich der Titelheld mit den anderen Protagonisten innerhalb der Diegese. Immer wieder wechselt die erzählte Epoche zwischen König Salomon, seinem verkannten Sohn Menelik, von dem sich die salomonische Herkunft des äthiopischen Kaisertums vor Theodoros herleitet, und dem im Roman in Teilen rumänisch- und griechischstämmigen Theodoros hin und her. Die Lesenden müssen hierbei höchst aufmerksam bleiben, denn die drei Männer sind wenig differente Figuren. Die inszenierte Herrschaftslinie von Salomon bis Theodoros ist vor allem eines: Die Kontinuität des rassistischen und misogynen Patriarchats, in dem der Blick des Mannes die Perspektive auf die Welt bestimmt.

Dabei wird die meiste Arbeit in motivischer Hinsicht den Lesenden von der Erzählinstanz abgenommen, kaum eine Referenz oder ein historischer Vergleich bleiben unausgesprochen oder implizit. Vermeint man in den ersten Kapiteln Ähnlichkeiten mit der Geschichte Alexanders des Großen und seinem Aufstieg zum makedonischen König und Herrscher über die halbe Welt zu bemerken, so dauert es nicht lange, bis der Protagonist sich in den Briefen an seine eigene Mutter als rumänisch-äthiopische Version Alexanders inszeniert. Da mag es auch nicht verwundern, dass der junge „Tudorică“ freilich seine Zeit mit der Alexandria verbrachte. (vgl. S. 122). Doch auch über Alexander den Großen hinaus scheint kaum ein wichtiger Mann der abendländischen Literatur- und Kulturgeschichte unerwähnt zu bleiben, wenn etwa „Napulion Bunăparte“ (S. 540), der „listenreiche Odysseus“ (S. 44), „Till Eulenspiegel“ (S. 120), „Äsop“ (S. 121), „Ovid“ (S. 66) oder „Erasmus und Machiavell und Sophokles“ (S. 66) beschworen werden. Der erhoffte Effekt ist offensichtlich: Der Titelheld Theodoros schreibt sich in diese Geschichte als bisher Vergessener neu ein. Das mutet an der einen oder anderen Stelle komisch an, etwa wenn Theodoros sich ermüdend oft an die englische Königin Victoria wendet, um eine transnationale Allianz zu bilden – die mächtigste Frau des 19. Jahrhunderts, die vor der Misogynie der Erzählinstanz ebenso wenig gefeit ist wie die anderen Frauenfiguren des Romans, hat hierfür nur ein müdes Lächeln übrig. Zwischen den Briefen an Victoria, an seine Mutter Sofiana oder an einen weiteren Kameraden im Geiste – „Seine[…] kaiserliche Majestät Kaiser Norton I. der Vereinigten Staaten von Amerika“ (S. 90) – macht Theodoros, zumindest in der Briefanrede, keinen Unterschied. Immer wieder die gleiche Litanei von Titeln und Namen, die auch die Erzählinstanz nicht mehr ernst zu nehmen scheint: „‚Ich Höchstselbst, Tewodoros II., König der Könige und Kaiser der Kaiser, Gatte Äthiopiens und Verlobter Jerusalems, unbesiegter Löwe von Judas Stamm, Erzbischof auf Lebenszeit der Äthiopisch-Orthodoxen Tewahedo-Kirche, Oberbefehlshaber der unbesiegbaren Streitmacht von Menelik etc., etc.‘ (die letzten von den etwa zwanzig Titeln der imperialen Nomenklatur waren sehr klein geschrieben, damit sie noch auf den Umschlag passten)“. (S. 90) Die Geschichte liest sich dann am besten, wenn die Passagen über diesen unzeitgemäßen Kaiser der Ungleichzeitigkeit des hochtechnisierten und industrialisierten 19. Jahrhunderts gegenübergestellt werden. Die Irritation über Theodoros ist nämlich vor allem ein Thema, wenn man sich als Teil einer vermeintlichen Moderne wähnt, die alles Abweichende als seltsam oder lächerlich einordnet.

Und dennoch: Obwohl es die unwahrscheinliche Geschichte eines Aufsteigers ist, stellt sich über weite Strecken keine echte Sympathie mit dem Protagonisten ein. Das mag nicht zuletzt an den testosteronüberladenen Kriegs- und Gewalthandlungen des Theodoros liegen. Mit seinen Wahlverwandten, in erster Linie mit dem biblischen König Salomon, hat der spätere äthiopische Kaiser ein frauenverachtendes Machtstreben und einen uferlosen Narzissmus gemein. So wird von beiden berichtet, dass sie entweder aus unkontrollierbarer Lust (Salomon) oder aus Machtkalkül (Theodoros) auch zu vergewaltigen in der Lage sind. (vgl. S. 393 und 616) Die Identifikationsangebote, die sich aufgrund einer stark psychologisierenden und geradezu intimen Sicht auf die Protagonisten präsentieren, werden durch solche Szenen regelrecht durchbrochen.

Es braucht schließlich eine distanzierte Haltung zum Roman, um das eigentliche Thema von Theodoros zu erfassen: das Verhältnis des größtenteils zwar nicht fantastischen, aber dennoch in weiten Teilen surrealen Handlungskomplexes zu unserer Gegenwart. Genauso wie das historische Vorbild will Cǎrtǎrescus Theodoros ein Beispiel antikolonialer – und vor allem gegen Großbritannien gerichteter antiimperialer – Resistenz sein. Die Mischung aus patriarchaler Frauenverachtung, radikalem Christentum und gekränkter Männlichkeit delegitimiert den fiktiven äthiopischen Kaiser jedoch als passende Widerstandsfigur gegen das übermächtige Vereinigte Königreich. Als Leistung des Romans muss die Ausstellung dieses Herrschertypus, der sich durch Narzissmus und Selbstmitleid auszeichnet, bis in das kleinste psychologische Detail hervorgehoben werden. Es handelt sich eben um eine „archetypische[…] Geschichte“ (S. 661), wie Cǎrtǎrescu selbst schreibt, die in Form dieses pseudohistorischen Romans eine Aktualisierung erfährt.

Patrick Graur

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