Czernowitz im Frühjahr 2024 – Ein Stimmungsbild
von Tobias Arand
Wie schon im Frühjahr 2023 war ich auch im Februar 2024 erneut in Czernowitz – diesmal in meiner Funktion als Wissenschaftler und als Zeichen der Verbundenheit meiner Hochschule mit der ukrainischen Partneruniversität. Nun ist die Reise aufwendiger als sie es im Jahr 2017 war. Man fliegt jetzt nach Suceava in Rumänien, dann geht es mit dem Sammeltaxi über rumpelige Straßen 100km nach Czernowitz weiter. Die Grenze und ihr Übertritt sind stets ein ganz eigenes Abenteuer, das immer wieder neue Facetten zeigen kann. Mehr sei hier dazu nicht gesagt. Fotos: Tobias Arand
18. März 2024Prof. Dr. Tobias Arand, Pädagogische Hochschule Ludwigsburg
Im September 2017 reiste ich das erste Mal nach Czernowitz/Tscherniwtzi in der Ukraine. Meine Beweggründe waren mehrschichtig. Mein Großvater, der starb, als ich ein Jahr alt war, kam aus einem kleinen Dorf bei Charkiw/Kharkiv. Er war 1925 zum Studium nach Deutschland gekommen und konnte als Sohn eines ‚Kulaken‘ wegen Stalins ‚Entkulakisierung‘ und ‚Holodomor‘ nie wieder in die Heimat zurückkehren. Dadurch hatte ich einen persönlichen Grund, mich für die Ukraine zu interessieren. Als ich von der Partnerschaft meiner Hochschule mit der Nationalen Jurij-Fedkowytsch-Universität in Czernowitz erfuhr, war dazu meine Neugier als Historiker für die wechselvolle Geschichte der Bukowina und für die Stadt Paul Celans und Rose Ausländers gewonnen. Ich beschloss, als Vertreter meiner Hochschule dorthin zu fliegen und für das Fach Geschichte eine Kooperation anzubahnen. Die Reise war damals unkompliziert. Man flog nach Kiew, von dort weiter auf den kleinen, nur einmal am Tag genutzten Flughafen von Czernowitz mit seiner buckeligen Landebahn. Ich kam in ein Land, dessen sowjetische Vergangenheit im Stadtbild, im Zustand der Straßen und Gehwege, aber auch im Verhalten vieler Menschen nicht zu übersehen war. Zugleich traf ich auch auf Menschen, die trotz des –in Deutschland oft vergessenen– schon damals tobenden Krieges im Donbass, der Krimannexion und der durchaus präsenten Korruption zuversichtlich und hoffnungsvoll in eine demokratische Zukunft schauten. Ich lernte Menschen kennen, mit denen ich bis heute sehr verbunden bin. Sehr augenfällig war die sowjetische Vergangenheit im Verhalten der Studenten und Studentinnen, denen ich in einem Seminar die Kriegslyrik August Stramms näherbringen wollte. Eingeschüchtert von ihren autoritären Lehrern wie Professoren und zu bewundernder Passivität erzogen, traute sich niemand, etwas zu fragen oder gar einen eigenen Gedanken zu äußern.
Im Jahr 2019 kam ich mit einer Kollegin aus der Erziehungswissenschaft und 15 Studierenden wieder. Eine Woche verbrachten nun deutsche und ukrainische Studenten und Studentinnen zusammen und lernten viel voneinander. Für das nächste Jahr wurden zwei weitere gemeinsame Veranstaltungen in Czernowitz und Ludwigsburg geplant. Fördergelder waren eingeworben. Doch dann kam erst die Coronapandemie, ihr folgte der Krieg im Februar 2022.
Prof. Dr. Tobias Arand und Ludwigsburger Studierende mit Kollegen aus Czernowitz
Unmittelbar als Folge des Krieges und auf Bitten meiner Freunde an der Universität in Czernowitz begannen wir vom Fach Geschichte, an unserer Hochschule für die Millionen Binnenflüchtlinge zu sammeln, die vor Putins Angriffskrieg in den Westen der Ukraine geflohen waren. Allein im Oblast Tscherniwtzi sind es 80 000 Menschen. Serhij Lukanjuk vom Foreign Office der Universität und die Germanistin Dr. Oxana Matiychuk von Gedankendach e.V. hatten direkt mit Kriegsbeginn begonnen, vor Ort Hilfsstrukturen aufzubauen. Siebenötigten dabei auch Unterstützung aus dem Ausland. Gemeinsam mit dem Studenten Lennart Schwarz und der Kollegin Cathérine Pfauth M.Ed. brachte ich schon Ende März 2022 an der Hochschule gesammelte Lebensmittel, Hygieneartikel und Kleidung an die rumänisch-ukrainische Grenze, wo Serhij Lukanjuk die Hilfsgüter mit seinen Mithelfern abholte. Die Spendenbereitschaft aller an der PH Ludwigsburg war hoch, und ist es immer noch. Neben Lennart Schwarz und Cathérine Pfauth haben mit mir auch die Studenten Jonathan Krauß und Markus Wild in mittlerweile 5 Hilfstransporten Tonnen von Material nach Czernowitz gebracht. Dr. Holger Dietrich, ebenfalls PH Ludwigsburg, hilft uns aktiv beim vergünstigten Einkauf von Schlafsäcken aus Spendenmitteln. Der technische Dienst der Hochschule übernimmt das Einsammeln und Lagern der Hilfsgüter. Unterstützt wurden wir auch vom Kollegen Prof. Dr. Christoph Knoblauch (Kath. Theologie) und seinem Freund Benjamin Beck, die einen Transport mit Hilfsgütern aus Tübingen organisierten. Groß ist die Hilfe des IKGS, das uns mit seinen gesammelten Spendengeldern die beim Transport entstehenden Unkosten ersetzt, sowie mittlerweile auch durch die Firmen Friedrich Scharr KG (Stuttgart) und Optima Packaging GmbH (Schwäbisch Hall). Allein die Firma Scharr spendete 2023 und 2024 technisches Gerät für die Reparatur von Gasheizungen im Wert von ca. 500 000 Euro. Unsere sechste Spendenfahrt ist für Mai 2024 geplant.
Wie schon im Frühjahr 2023 war ich auch im Februar 2024 erneut in Czernowitz – diesmal in meiner Funktion als Wissenschaftler und als Zeichen der Verbundenheit meiner Hochschule mit der ukrainischen Partneruniversität. Nun ist die Reise aufwendiger als sie es im Jahr 2017 war. Man fliegt jetzt nach Suceava in Rumänien, dann geht es mit dem Sammeltaxi über rumpelige Straßen 100km nach Czernowitz weiter. Die Grenze und ihr Übertritt sind stets ein ganz eigenes Abenteuer, das immer wieder neue Facetten zeigen kann. Mehr sei hier dazu nicht gesagt.
Prof. Dr. Tobias Arand im Interview, 2024, © Tobias Arand
Ich hielt Vorträge vor Studierenden und gab Interviews für das Radio und die Homepage der Universität. Vor allem aber sprach ich mit Menschen über ihre Einschätzungen der Lage. Die Hoffnung auf ein siegreiches Ende des Krieges, die 2023 groß war, ist im Jahr 2024 einer wachsenden Skepsis gewichen. Das Scheitern der Offensive 2023, die schwer vermittelbaren Diskussionen über Waffenlieferungen im Westen und die drohende Wiederwahl Donald Trumps in den USA machen jene nachdenklich, die sich für diese Fragen interessieren. Doch in Czernowitz, noch von keiner russischen Rakete getroffen, scheint der Krieg für viele weit weg zu sein. Zwar verliert auch der Oblast Tscherniwtzi täglich Männer an der Front, und es hängen Fotos Gefallener an öffentlichen Plätzen, die Zahl Uniformierter auf den Straßen ist höher als vor dem Krieg, doch wie in allen Gesellschaften vergangener Kriege gehen auch hier die meisten Menschen dem ohnehin mühsamen Alltag in einer postsozialistischen Welt nach. Die Zahl derer, die sich aktiv an den Hilfsaktionen an der Universität beteiligen, ist unter denen, die noch die Sowjetunion kennengelernt haben, gering. Der ‚homo sovieticus‘ hat Angst, sich zu engagieren, manche – so sagt eine Kollegin – weil sie nicht nach einem russischen Sieg zur Verantwortung gezogen werden wollen. Die aber, die sich keinem Defätismus hingeben, packen mit an und helfen, wo sie können. Und die Jugend, ist nicht mehr wie 2017 eingeschüchtert, sondern durch einen allmählichen, wenngleich langsamen akademischen Wandel, vielleicht auch durch den Krieg bewirkt, etwas mutiger geworden. Eindrucksvoll sind die Studenten und Studentinnen, die freiwillig Lebensmittelpakete packen und an Binnenflüchtlinge verteilen, oder die Schüler und Schülerinnen, mit denen ich diskutiert habe. Die jungen Menschen sehen, was sie verlieren können und engagieren sich genau aus diesem Grund. Und es sind immer ähnliche Fragen, die ich von ihnen höre und die sie sich nun zu stellen trauen: Werden die Russen eines Tages einsichtig werden? Kann Russland ein ‚guter‘ Nachbar werden? Meine Skepsis bei dieser Frage kann ich aber nicht verschweigen. Die totale Niederlage, die wir Deutschen brauchten, um von Völkermördern zu Demokraten zu werden, wird das faschistische Russland vermutlich nicht erleiden. So begründe ich meine wenig ermutigenden Zweifel. Viele junge Ukrainer und Ukrainerinnen spüren auch einen tiefen Hass auf die russischen Nachbarn, denen sie kulturell und historisch doch eigentlich so nahestehen. Dass aber Hass zwischen Völkern überwunden werden kann, habe ich mehrfach in Vorträgen am Beispiel der deutsch-französischen ‚Erbfeindschaft‘ und ihrer Überwindung gezeigt – vielleicht ein Hoffnungsschimmer für die Zeit nach Putin und seiner Clique von Verbrechern…
Die ukrainische Gesellschaft ist keine homogene Kriegsgesellschaft. Es gibt Krisengewinnler, die man an ihren großen SUVs erkennt und die oft wohlhabenden Flüchtlinge aus Kiew, die Preise der Hauptstadt gewöhnt, in den Restaurants sitzen, die sich der durchschnittliche Czernowitzer nicht leisten kann. Solche Phänomene spalten die Gesellschaft und bringen vor allem jene auf, die sich um den Zusammenhalt sorgen. Auf die jungen Männer, die vor dem Kriegsdienst in den Westen geflohen sind, schauen viele derer mit Verachtung, denen das Schicksal der jungen Nation nicht gleichgültig ist. Aber wer kann richten, wenn jungen Menschen nicht wie 1914ff. in Schützengräben zerfetzt werden, sondern leben wollen? Der Rückhalt für den Präsidenten Wolodmir Selenskyi, ohne den der Krieg schon lange verloren wäre, schwindet ebenfalls langsam. Die Kritik an der Zögerlichkeit der deutschen Regierung wird offen ausgesprochen, wenngleich auch gesehen wird, wie sehr sich die deutsche Politik seit den blamabel-legendären ‚5000 Helmen‘ schon bewegt hat. Zugleich gibt es auch immer wieder Momente der Hoffnung. Der Gleichmut, mit denen die Studenten und Studentinnen 2023 meine durch einen Luftalarm unterbrochene Vorlesung einfach im bombensicheren Keller weiterverfolgten, war eindrucksvoll.
Straßenschild in Czernowitz: „Слава Україні“ („Ruhm der Ukraine“) © Tobias Arand
Die Lage, wie ich sie nun im Frühjahr 2024 wahrnahm, ist uneindeutig. Neben großem Engagement und eindrucksvoller Hilfsbereitschaft, vom Opfermut der Kämpfer an der Front nicht zu reden, stehen auch Defätismus und wachsende Zweifel. Doch Aufgeben kann keine Option sein, will die Ukraine und damit auch der ganze ‚freie‘ Westen überleben. Was wir von der Abteilung Geschichte der PH Ludwigsburg tun können, um unseren Partnern in Czernowitz dabei zu helfen, werden wir tun: „(…) if necessary for years, if necessary alone, (…) whatever the cost may be (…).“