Norman Manea: Der Schatten im Exil. Roman-Collage. Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. München: Hanser Verlag 2023. 320 S.

Der Untertitel definiert das Buch als Roman-Collage. Etwa ein Drittel des Textes besteht aus Zitaten aus Arbeiten anderer Schriftsteller, Forscher, Literaturwissenschaftler, Studenten. Norman Manea hat mit diesen fragmentarischen Texten eine passende Form für die Zerrissenheit seiner entwurzelten Protagonisten gefunden.


Der wahre Held des Romans ist der Schatten, der in seiner Ambivalenz als lästiger Begleiter (Spitzel) oder durch seine völlige Abwesenheit (Identitätsverlust) das Schicksal der Menschen bestimmt. Der Protagonist bleibt namenlos, aber Norman Manea findet zirka 100 Begriffe, um ihn in den jeweiligen Situationen zu definieren. Der Namenlose findet ein Pendant in Peter Schlemihl, dem Mann, der seinen Schatten für einen sich immer füllenden Geldbeutel verkauft, aus Adelbert von Chamissos Kunstmärchen Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Die Leser kommen der Figur des Schlemihl, der in seinem Namen das Christliche (Apostel Petrus) mit dem Jüdischen (Schlemihl/unschuldiger Tor) vereint, durch eine ganze Reihe von Texten verschiedener Autoren näher. Durch den Verlust des Schattens stürzt sich Peter Schlemihl ins Unglück, denn er wird als monströs empfunden und von den Menschen gemieden.


Der ganze Roman ist in Verschwommenheit und Unschärfe gehalten. Träume, Albträume, Erinnerungen, Fiktion und Realität wechseln sich ab und schaffen verschiedene Zeitebenen und Räume. Struktur verleiht die Einteilung: Drei einleitenden Kapiteln anstelle eines Vorworts folgen 50 weitere mit wegweisenden Titeln.


Die Handlung beginnt im Rumänien der 1980er-Jahre, der Protagonist ist ein Gelehrter, der die Zirkuskunst studiert. Die Welt wird als großer Zirkus betrachtet, das Exil als existenzielles Leiden, was bereits aus dem ersten Satz hervorgeht: „Das Exil beginnt beim Verlassen der Gebärmutter“. (S. 9) In der Zeit der kommunistischen Diktatur lebt der „Schlaftrunkene“ (S. 13) in einem inneren Exil, im totalen Rückzug in die Welt der Bücher, um die dauernde Bewachung, Bespitzelung und Verfolgung durch die Securitate auszublenden: „Hier hatte er sich in die Wörter verliebt und sich vorgemacht, nicht in einem Land, sondern in einer Sprache zu leben“. (S. 26)


Als fünfjähriges Kind wurde der Protagonist bereits mit einem realen Exil konfrontiert, als er mit seiner jüdischen Familie 1941 nach Transnistrien deportiert wurde. Nachdem die Erwachsenen in der Deportation sterben, bleiben er und die Halbschwester Tamar/Agathe als Waisenkinder zurück, mit dem Trauma der Deportation und der Wanderungen durch die elenden sozialistischen Waisenhäuser, was sie veranlasst, sich in einer affektiv-erotischen, inzestuösen Verbindung aneinander zu klammern. Die Namen Tamar aus dem Roman Josef und seine Brüder von Thomas Mann und Agathe aus Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil sind ein Hinweis auf die inzestuöse Beziehung.


Bestellt ins Hauptquartier der Securitate erfährt der „Einbestellte“ (S. 28) von Oberst Tudor, dass er in ein weiteres Exil gehen soll, in die USA, wo sich die Halbschwester bereits befindet, durch die Heirat mit einem amerikanischen Journalisten. Durch Exil soll der Protagonist von seiner Welt-Angst, die ihm der Psychiater und Spitzel der Securitate Eduard Sima als Folge des Deportationstraumas diagnostiziert hat, geheilt werden, der Verlust der Muttersprache und der Bücher sollen ihn welttauglich machen. Auf dem Flug, weg von der Heimat, wundert sich der „Passagier“ (S. 33), dass er nicht blutet: „Er hatte sich die Trennung von sich selbst als blutig vorgestellt“. (S. 37)


Der „Heimatlose“ (S. 68) landet im Berlin der späten 1980er-Jahre bei seinem Freund Günther, ein exilierter Siebenbürger Sachse, den er in einem Pionierlager kennengelernt hatte. Günther ist weiterhin aktiver Kommunist, glaubt an die Lehren von Karl Marx und leidet unter der deutschen Schuld am Holocaust. Er sieht es als seine Aufgabe an, ein Archiv des Holocaust für die Aufarbeitung der Schuld zu errichten. In Berlin gehen beide den Spuren von Adelbert von Chamisso nach, dieser auch ein Exilant, geflüchtet aus Frankreich nach Deutschland, um schließlich als Botaniker durch die Welt zu irren, damit er den Verlust des „Schattens“ verdrängt. Der Protagonist empfindet sich hier als der „Fremde“ (S. 72): „Der Fremde trägt sein Schicksal wie einen Prüfstein mit sich, für sich selbst und für jene, in deren Mitte er gelebt hat und leben wird“. (S. 66)


Noch vor dem sich abzeichnenden Fall der Mauer, da er an keine Veränderung der Welt glauben kann, verlässt der „Auswanderer“ (S. 72) Berlin Richtung Amerika. Das Wiedersehen mit Tamar/Agathe in Washington ist schmerzlich, die inzestuöse Beziehung wird fortgesetzt, zu einer anderen sind sie nicht fähig. Tamar befindet sich in Scheidung, sie schenkt dem Bruder eine Schnecke, da sich beide in ein Schneckenhaus zurückgezogen hatten: „Die wandernde Schnecke ist gekommen, die heimatlosen Exilanten willkommen zu heißen. Sie ist jederzeit bereit, sich erschrocken zurückzuziehen in ihr Haus“. (S. 109) Das Motiv der Schnecke taucht immer wieder auf, später beim Besuch eines Psychiaters, der dem Exilanten als Therapie eine Broschüre über Schnecken gibt: „Die seltsame Anatomie der Schnecke, ihre geheimnisvolle Defensive, […] bieten einen so zartfühlenden wie engagierten Blick auf das seltsame Leben dieser unterschätzten kleinen Lebewesen …“. (S. 160) Auf dem Cover der deutschen Ausgabe des Buches ist ein Schneckenhaus zu sehen.


Der „Immigrant“ (S. 141) gelangt durch die Empfehlung seiner Englischlehrerin Jennifer aus Berlin zum Präsidenten des berühmten Bard College in New York, der ihn mit den Worten empfängt: „Oh, du! Der ewige Wandersmann. Der Nomade! Es freut mich, dass du die Einladung angenommen hast“. (S. 112) Der Weg zu einem Arbeitsplatz aber erweist sich für den Immigranten als schwierig: „Ich putze die Fenster im Café, räume in der Apotheke die Regale ein und immer so weiter“. (S. 117) Schließlich wird er im abgelegenen Buster-Keaton-Kolleg angestellt, wo Clowns ausgebildet werden: „Unsere Studenten lernen, wie man bis zur Identifikation die komische oder tragische Clownsmaske trägt, sich ihr assimiliert …“. (S. 121) Stephanie de Boss, die Präsidentin des Kollegs, findet schließlich über das gemeinsame Fremdsein den Draht zu dem Bewerber und stellt ihn ein: „Ich kenne den Herrn Charlie Kardash, der dich zu mir geschickt hat. Wir sind Fremde, vielleicht kennen wir uns deshalb“. (S. 121) Hier wird er mit dem unkonventionellen amerikanischen Campusalltag konfrontiert, aber auch mit dem harten Gesetz des Geldes. Wenn Günther in Berlin das Kaufhaus des Westens als Bordell bezeichnete, so sagt die Präsidentin des Kollegs: „Das Kolleg benötigt Spender, ich denke, du verstehst. In diesem Land geht die Caritas Hand in Hand mit materieller Stimulation“. (S. 121) Über ein schwieriges Aufnahmeverfahren wird der Nomade schließlich Professor am renommierten Bard College in New York. Er lernt die alte Dame Carol kennen, die ihm den Namen Nomade-Misanthrop verpasst, ein Hinweis auf die Initialen im Namen des Autors: „Ich würde Dich zu Ehren der verschwundenen Ahnen den Nomaden nennen. Misanthrop? […] Der misanthropische Nomade“. (S. 149) Über Carol lernt der Professor ihre Nichte Eva kennen, die Frau, die den Professor im Alter begleiten wird. Im Gespräch über Sisi, die Kaiserin, die sich als heimatlos empfand, über Cioran, den exilierten Nihilisten, bekennt Eva: „Ich bin eine Sesshafte und Amerikanerin in einem Land der Heimatlosen. Ich bin nicht heimatlos. Ich möchte die Entfremdung verstehen lernen. Das Exil“. (S. 189) Ob man Exil verstehen kann, bleibt unbeantwortet, auch, ob es einen Zufluchtsort gibt in den Wirren des Exils. Einmal nur fühlt sich der Professor als zugehörig zu den Amerikanern, in der Katastrophe des Terrorangriffs am 11. September 2001 auf die Twin Towers in New York: „Sieh an, der Nomade fühlte sich solidarisch mit denen, die auf dem Stück Land lebten, auf dem er vor über einem Jahrzehnt gestrandet war. Ja, jetzt war er einer von ihnen!“. (S. 220)


Im Alter wird der Professor immer einsamer. Er beantwortet weder die Briefe Günthers noch die der Schwester. Tamar verkraftet diese Loslösung nicht, sie begeht Selbstmord. Bei seinen Besuchen auf dem Eden-Friedhof des Colleges vermischen sich Traum und Realität, der alte Professor kehrt in seine innere Welt zurück, er trifft hier Peter Schlemihl, der zunächst als stummer Schatten auftritt und das Gespräch verweigert. Erst als der Professor, aufgebracht über dessen Verschwinden, sagt: „Die Heimatlosigkeit ist nicht bloß ein Unglück, wollte ich sagen. Sie ist auch ein Möglichkeitsraum, es kann lohnend sein, sich darauf einzulassen“ (S. 299), findet sich der Schatten in der Gestalt eines Studenten mit den Siebenmeilenstiefeln des Peter Schlemihl zum Gespräch ein, um über eine Versammlung zu berichten, bei der Schlemihl, Chamisso und Exilanten aus verschiedenen Zeiten anwesend waren: Nabokov, Joyce, die Brüder Mann, Brecht, Brodsky, Celan, Neruda, Lampedusa, Hikmet, Ovid. Die Geschichte des Professors endet mit den Worten: „Schau, Hineni, hier bin ich, bin bereit“. (S. 315) Ankommen im Möglichkeitsraum des Exils oder Abschied aus dem Leben? Der Schluss bleibt offen.


Norman Manea hat mit diesem Buch, das meisterlich von Ernest Wichner übersetzt wurde, allen Heimatlosen ein Denkmal gesetzt. Alberto Manguel sagt zurecht im Klappentext über das Buch: „Ein brillantes Buch, voller Weisheit, Humor, intelligenter Überlegungen und geschärfter Erfahrung. Ein Meisterwerk.“

Von Eva Filip

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