Literatur und Politik in Ungarn
Von Gábor Schein
2. Juli 2024In Osteuropa haben die vorangegangenen Generationen die Wahrheit der Zeilen Anna Achmatowas, die stumme und oft unsichtbare Tragödien in sich tragen, immer und immer wieder erlitten:
Wie einen Fluss haben mich
schwere Zeiten von meinem Weg
abgebracht. Mein Leben ausgetauscht.
Es rauscht, das alte Flussbett meidend.
Ich kenne meine eigenen Ufer nicht.1
Besondere Worte sind das. Worte einer Dichterin, die mit ihrem unbestechlichen Mut ein Vorbild dafür geworden ist, dass das scheinbar machtlose, allein dastehende Individuum, wenn es tief in seiner Seele frei ist, der Raupenkettenarroganz und dem kriegerischen Zynismus der Macht zu trotzen vermag. Wenn es zwischen Wladiwostok und Ostberlin Leben gab, die in ihrem eigenen Flussbett, ausgewaschen von Freiheit und Kultur, strömten und bis heute weiterhin strömen, ihre Stimmen vernehmen lassen, dann war das Leben von Anna Achmatowa ganz sicher ein solches. Dennoch sagt sie, schwere Zeiten hätten sie von ihrem Weg abgebracht, ihr Leben ausgetauscht. Es war nicht ihre Absicht gewesen, zur sanften Heldin unbeugsamer Integrität zu werden, zum einsamen Menschen, der Freundschaften und Liebschaften betrauerte, doch das wurde sie, das war die zwangsläufige und natürliche Entscheidung ihrer inneren Freiheit, ihre Antwort auf den Terror Stalins. Währenddessen wurden aus anderen, aus unfähigen, trägen Jünglingen verdorbene Speichellecker des Regimes, aus einfältigen und aggressiven Holzköpfen irgendwelche Direktoren, Chefredakteure, in einer paranoiden Fantasiewelt lebende Minister. Hier war das so üblich und ist es auch noch heute.
Aber was aus uns wird, ist letzten Endes eine Frage individueller Entscheidungen. Wer heute in Ungarn lebt, ist häufig durch Verbitterung gelähmt. Doch können wir von Achmatowa erfahren, dass Ungarn derzeit ein noch eher freundliches Sanatorium im Vergleich dazu ist, wo das halbe Land eingesperrt war, das halbe Land saß. Die Risiken sind hier und jetzt unvergleichlich geringer. Unser Leben ist zwar nicht mehr als ein seitlich an der Schachtel entlanggezogenes Zündholz, aber ob aus diesem winzigen Aufflammen ein Kerzenlicht wird, oder ob es ein Haus in Brand setzt, das liegt allein an uns.
Über den Zustand der ungarischen Gesellschaft im Allgemeinen
In den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg lebte Ungarn mit Ausnahme von drei kurzen Jahren (1945–1947) stets unter diktatorischen Bedingungen. Die mentalen Reflexe, die das Entstehen des Orbán-Regimes als Antwort auf die Enttäuschungen und Misserfolge der zwanzig Jahre nach der Wende ermöglichten und sein Bestehen auch heute gewährleisten, haben ihren Ursprung in der Lebensstrategie von Generationen. In der Ratlosigkeit, in der Hilflosigkeit von Generationen. Auch wenn das Vermögen des Landes zum Privatbesitz einiger weniger Familien wurde, auch wenn die Bildung unvorstellbar tief gesunken ist, auch wenn das Gesundheitswesen der Mehrheit der Landesbevölkerung keinerlei Hoffnung auf Heilung oder Überleben bietet, auch wenn fast alle, die unter vierzig sind und noch ein Fünkchen konvertierbares kulturelles Kapital besitzen, ins Ausland fliehen, auch wenn das alles für die in Ungarn verbliebenen Menschen unerträglich ist, spricht es sie frei und gibt es ihnen ein perverses Gefühl der Sicherheit. Indes sind die Institutionen in ihrer Arbeit bis ins kleinste Detail von absurden Lügen durchsetzt. Sie haben keinen anderen Sinn, als dafür zu sorgen, dass sich jeder mitschuldig am Funktionieren des Regimes und keinesfalls in Sicherheit fühlt, denn wenn er eine Schule, eine Stiftung, eine Band ins Leben rufen, kurzum im gemeinschaftlichen Raum aktiv sein möchte, kann ihm leicht nachgewiesen werden, dass er betrogen hat, weil der Staat ihn mit unausführbaren oder geradewegs zur Selbstaufgabe drängenden Gesetzen zum Betrug zwingt. „Das zynische Herunterleiern von Lügen, das Ausmerzen von Werten der Elite, Kontraselektion, Korruption, als öffentliche Sicherheit getarnte Lagerwirtschaft, unter dem Vorwand sozialer Sicherheit durchgeführter sozialer Pfusch, Verwahrlosung des Gesundheitswesens“ – so charakterisierte Imre Kertész in seinem Tagebuch sein Umfeld in der Kádár-Ära.2 Müsste ich das Ungarn von heute charakterisieren, ich würde kein einziges Wort an Kertész‘ Satz verändern. Und dort, wo vor der Öffentlichkeit die Wahrheit lange Zeit nicht ausgesprochen werden darf, wo man systematisch dafür sorgt, dass sich die Sprache zum Aussprechen der Wahrheit nicht eignet, dort kann man kein menschenwürdiges Leben führen.
Ich bin Schriftsteller, somit sehe ich das Land vor allem durch das Schicksal der Sprache und durch die Literatur. Die Grundstimmung der ungarischen Literatur war schon immer die tragische Melancholie, die aber oft mit einer Art Nachlässigkeit dem Dasein selbst gegenüber einherging. Im 20. Jahrhundert erschien dann plötzlich eine bis dahin unbekannte Qualität von Größe und Radikalismus. Sie erschien in Endre Ady, Milán Füst, Attila József, Miklós Radnóti und Sándor Weöres. Setzte sich später fort in János Pilinszky und Ágnes Nemes Nagy. Und stand dann in voller Pracht vor uns in Imre Kertész, Péter Nádas, László Krasznahorkai und Szilárd Borbély. Aber sie alle waren in keinem einzigen Augenblick gleichbedeutend mit dem Land. Ihre Größe und ihr Radikalismus vermochten die vorherrschenden Mentalitäten nicht aus der gewohnten Ohnmacht hinauszubewegen, denn dazu bräuchte es in erster Linie Freiheit und kritische Selbsterkenntnis. Was die vorherrschende Attitüde in Ungarn fördert, ist ein frustrierter Narzissmus, wegen dessen die Mehrheit der Ungarn unfähig ist, den Unterschied zwischen der eigenen Person und der vorgestellten Gemeinschaft der Nation wahrzunehmen. Die Grammatik der jede Möglichkeit zur Selbstkritik auslöschenden Identifikation wird den ungarischen Kindern schon rechtzeitig in der Schule eingetrichtert. Es wird ihnen eingetrichtert, dass Selbstständigkeit beängstigend und in keiner Weise wünschenswert ist. Andererseits ist die auf Gegenseitigkeit beruhende Kooperation ebenso wenig wünschenswert. In den ungarischen Schulen herrscht oft auch heute noch eine Kasernenmentalität. Eine Veränderung, darin bin ich mir ganz sicher, müsste hier einsetzen. Das System Orbán hat jedoch in den Schulen das Obrigkeitsdenken und das Misstrauen verstärkt und selbst den Rest an freier Entscheidung ausgerottet. Währenddessen sind die Gehälter der Lehrer so niedrig, dass es eine Schande ist. Es gibt unzählige freie Lehrerstellen, die mit unqualifizierten Personen besetzt werden.
Die kulturelle Politik des Fidesz
Will man den Charakter der Kulturpolitik von Fidesz bestimmen, sollte man zwei Begriffe von Kultur unterscheiden. Der enger gefasste Kulturbegriff stellt die durch Kunst und Wissenschaft erschaffenen Werte, deren Erhalt und Vermittlung in den Vordergrund. Dieser Kulturbegriff umfasst vor allem die von der Elite geschaffenen und konsumierten Werte. Auch er besitzt einen emanzipatorischen Aspekt, insofern man davon ausgeht und es als wünschenswert erachtet, dass diese Werte sich längerfristig positiv auf die Gesellschaft auswirken. Der in einem weiteren Sinne verstandene Kulturbegriff umfasst hingegen die Gesamtheit des durch Lernen erworbenen und weiterentwickelten gemeinsamen Reflexbestandes und der Wissensstruktur, er richtet die Aufmerksamkeit also nicht auf eine einzige Werteform und soziale Schicht, die er damit hervorhebt. In diesem Sinne legt die Kultur ein kompliziertes mentales, moralisches, kognitives und sozialpsychologisches Fundament, das durch seine Schichtung und heterogene Beschaffenheit bestimmt, wie eine Gesellschaft funktioniert.
Die Kulturpolitik von Fidesz ist in erster Linie Machtpolitik. Das Beschaffen und die Sicherung der Macht ist für den Anführer der Partei der ständige Kampf mit erklärten Feinden. Die Rahmenbedingungen der Machtpolitik im Bereich der Kultur werden durch deren enger gefassten Begriff bestimmt. Es handelt sich um eine Intellektuellenpolitik, insofern eine der konkurrierenden intellektuellen Gruppen unterstützt und zum Klienten gemacht wird. Sie ist institutionenzentriert, insofern sie die durch die Eliten betriebenen kulturellen Institutionen als Zentren der Macht und Ideologie betrachtet. Gleichzeitig geht die Partei Fidesz, die den Kulturbegriff im engeren Sinn begreift, davon aus, dass die von ihr beherrschten Institutionen in der Lage sind, ihre ideologischen Botschaften breiteren gesellschaftlichen Gruppen zu vermitteln, und dazu sieht sie vor allem im Bildungswesen, in der Propaganda und der populären Kultur ein effektives Mittel. Neu an der aktuellen Legislaturperiode ist, dass Fidesz in der Kultur ein Terrain zu einer langfristigen Bewusstseinsbildung erkannt hat. Für die theoretische Steuerung der Kulturpolitik ist Viktor Orbán zuständig. Ihr Inhalt wird nicht durch den für diesen Bereich verantwortlichen Staatssekretär definiert, sondern durch einige Journalisten und Institutsleiter, deren Auffassungen zwar in vielen Details voneinander abweichen, doch die sich darin einig sind, dass die kulturellen Narrative (Mythen, Aberglauben) imstande sind, das zu erreichen, wozu die auf kurzfristigen Interessen beruhende Tagespolitik nicht fähig ist. Sie pflanzen den Menschen grundlegende Muster als Evidenz ins Bewusstsein ein. Identitätsstiftende Symbole, Phantasmagorien, die Fidesz und deren Anführer als die Essenz der ungarischen nationalen Kämpfe erscheinen lassen. Dieses wesentliche Moment der Kulturpolitik erinnert stark an das stalinistische Modell der 1950er-Jahre.
Viktor Orbán hat des Öfteren erklärt, dass er die Kultur als „Schlachtfeld“ betrachte. Der Kampf finde heute, wie er in seiner Rede bei der Bestattung von György Fekete3 am 23. Juni 2020 dargelegt hat, gegen die im Westen vorherrschenden Lebensformen und Anschauungen statt, die bei denjenigen, die sich der nationalen Kultur verpflichtet fühlten, Entsetzen hervorriefen, unmittelbar sei es aber ein Kampf gegen jene, für die der Inhalt und die Sprache des nationalen Engagements nicht gleichbedeutend damit seien, Fidesz zu folgen oder jene Sprache zu sprechen, in welcher der Anführer der Partei über die Welt und Europa rede. Die kulturellen Aspekte des nationalen Engagements in der Gedankenwelt von Fidesz zu erfassen, ist deshalb unmöglich, weil es keine ästhetische, sondern nur eine politische Komponente gibt. Somit verhindert nichts, dass die nationale Kultur in der Rhetorik von Fidesz in der Tat als kämpferischer Begriff funktioniert und gegen jeden Einzelnen und gegen jede Institution ausgespielt werden kann, wenn die aktuellen Machtinteressen es eben erfordern. „Wir Ungarn“, so setzte Viktor Orbán, der mit Vorliebe im Namen der nationalen Gemeinschaft spricht, die oben erwähnte Rede fort, „wollen eine Allianz aus nationalem Engagement und autonomen künstlerischen Bestrebungen“. In diesem Satz ist nicht nur die vollkommene Vereinnahmung der Identitätsmarkierung „Ungarn“ auffallend, sondern auch, dass Orbán zwanghaft die in der frühen Kádár-Ära vorherrschende Variante des – aus dem 20. Jahrhundert wohlbekannten – Gegensatzes von Engagement und Autonomie wiederholt. Er lässt keinen Zweifel daran, dass er von den Akteuren der Kultur politisches Engagement erwartet. Die Rahmen der Kulturpolitik steckt Viktor Orbán in seiner Programmrede als Ministerpräsident vom 10. Mai 2018 ab: „Verehrtes Haus! Im Geheimen lässt sich eine ganze Nation nicht erneuern. Meiner Auffassung nach hat es zu den bisherigen Erfolgen beigetragen, dass wir offen ausgesprochen haben: Die Epoche der liberalen Demokratie ist zu Ende.“
Der Machtdiskurs der vergangenen zwei Jahre war vom Ausdruck und von der Rhetorik des „Kulturkampfes“ beherrscht. Grund dafür war vor allem, dass der Machtapparat von Fidesz erkannt hatte: Während es gelungen war, den Strukturen und Akteuren im Bereich der Wirtschaft, der Justiz und der Medien den Willen der Partei weitgehend aufzuzwingen, traf dasselbe für einen maßgeblichen Teil der Akteure in der kulturellen Sphäre nicht zu. Somit verfügt diese Sphäre heute, im 13. Jahr der Zweidrittelmacht von Fidesz, über ein geringes, doch in seiner gesellschaftlichen Wirkung nicht ganz zu vernachlässigendes Widerstandspotenzial.
Bildungsniveau, Lesekompetenz, gesellschaftliche Kommunikation
Möchte man wissen, in welchem kulturellen Zustand sich die ungarische Gesellschaft im dritten Jahrzehnt des Jahrhunderts befindet, kann man sich anhand dreier Indikatoren ein relativ zuverlässiges Bild machen. Der erste von diesen bedarf keiner weiteren Erklärung. Die Höhe des Bildungsniveaus gehört zu den wichtigsten Indizes jeder modernen Gesellschaft. Der zweite, die Lesekompetenz, und zwar die Verbreitung des herkömmlichen Lesens von Büchern, versteht sich schon nicht mehr ganz von selbst. Warum sollte man in einer Zeit der Digitalisierung Kompetenzen, die sich durch das Lesen von Büchern herausbilden, ernst nehmen? Weil eine Reihe von Studien belegt, dass durch das Lesen von Büchern erworbene Kompetenzen eine starke Korrelation mit der Empfänglichkeit für rationale Erklärungen, der Fähigkeit der Aufmerksamkeitssteuerung sowie dem Erkennen von Makro- und Mikrokontexten aufweisen, also mit Fähigkeiten, die unerlässlich für das Lernen, für das Verstehen neuer Situationen und die Adaption sind. Beide Indikatoren lassen sich statistisch gut messen. Auf den dritten Indikator, die Form und Kraft der Kommunikation unter gesellschaftlichen Gruppen, kann man aus soziologischen Studien schließen.
Das Bildungsniveau der ungarischen Gesellschaft hat sich in den 1990er-Jahren kontinuierlich und stark verbessert, und dies trifft auch auf die 2000er-Jahre zu. Wobei hier anzumerken sei, dass das Niveau zuvor relativ niedrig gewesen ist. Dieser Prozess setzte sich auch in den 2010er-Jahren noch fort, jedoch bereits langsamer. 2011 betrug laut dem Zentralen Statistikamt (Központi Statisztikai Hivatal, KSH) der Anteil an Personen, die höchstens acht Schulklassen absolviert haben, unter der erwachsenen Bevölkerung immer noch 31,7 Prozent, jeder Zehnte hatte nicht einmal acht Klassen abgeschlossen. Diejenigen, die über ein Facharbeiter- oder Fachschulzeugnis verfügten, machten 21,3 Prozent der Erwachsenen aus. Die Personen mit einer niedrigen Schulbildung stellten also immer noch die Mehrheit dar. Der Anteil der Abiturienten, die keine weiterführende Bildungseinrichtung besuchten, lag bei 31,3 Prozent, jener der Akademiker bei 18 Prozent. Im Jahr 2016 zeigten die Proportionen eine leichte Verbesserung. Die Personen, die höchstens acht Schulklassen absolviert hatten, machten nur noch 26,5 Prozent der Bevölkerung aus, die Facharbeiter hingegen 20,9 Prozent, während der Anteil der Abiturienten auf 33,4 Prozent und jener der Akademiker auf 19 Prozent anstieg. Die Verbesserung war jedoch teils dem Umstand zu verdanken, dass das Bildungsniveau bei den älteren Jahrgängen sehr viel schlechter als der Durchschnitt war, daher verbesserte ihr Tod automatisch die Datenlage. Des Weiteren ist bekannt, dass zwischen dem Bildungsniveau und der Lebenserwartung ein unmittelbarer Zusammenhang besteht. 2020 betrug der Anteil der Personen, die höchstens acht Schulklassen absolviert hatten, nur noch 19 Prozent und jener der Facharbeiter 24 Prozent. Das heißt, der Anteil der Personen mit niedriger Schulbildung betrug noch immer 43 Prozent. Jener der Abiturienten lag bei 32 Prozent und der Akademiker bei 23 Prozent. Zum Gesamtbild gehört, dass das inhaltliche Niveau des Unterrichts fortlaufend gesunken ist, insbesondere an den Fachschulen, wo die Förderung der allgemeinen Kompetenzen heute nur noch verschwindend gering ist. Dies ist neben der internen Lohnungleichheit ein wichtiger Grund dafür, dass in Ungarn sehr viele Menschen in einer Position unterhalb ihres Bildungsniveaus arbeiten. Noch düsterer macht das Bild, dass sich unter den Abwandernden in der Mehrzahl junge Akademiker befinden, beziehungsweise Studierende, die im Ausland ihr Diplom erwerben und nicht nach Ungarn zurückkehren.
Von den Lesegewohnheiten berichten die Studien des Instituts für Sozialforschung TÁRKI. Durch sie ist bekannt, dass heute 13 Prozent der ungarischen erwachsenen Bevölkerung regelmäßig (mindestens wöchentlich) lesen. Der Anteil jener Erwachsenen, die regelmäßig Bücher lesen, ist zwischen 2005 und 2020 um zwölf Prozent gefallen, das heißt, er hat sich halbiert. Ein Drittel der Erwachsenen (34 Prozent) liest gelegentlich, während mehr als die Hälfte (53 Prozent) nach eigenen Angaben gar nicht liest. Die meisten von ihnen geben heute bereits zu, dass der Grund dafür nicht der Zeitmangel ist, sondern dass sie nicht gerne lesen. In einer Fremdsprache lesen sechs Prozent der Bevölkerung jährlich mindestens ein Buch. Am meisten lesen Frauen, die jünger als 24 Jahre und älter als 60 Jahre sind, am ehesten Unterhaltungsliteratur und Belletristik; am wenigsten lesen Männer mittleren Alters aus der ländlichen Region. Dieselben Angaben waren 2020 in Deutschland: Mindestens wöchentlich lesen 28 Prozent, gelegentlich 43 Prozent und überhaupt nicht 29 Prozent. Auch in Deutschland weisen die Angaben zu den Lesegewohnheiten eine ständige Verschlechterung auf, doch ist diese Tendenz sehr schwach, während sie in Ungarn als rasant bezeichnet werden kann, was vor allem mit Blick auf den Anteil der nicht lesenden Personen einen erschreckenden Unterschied zu Tage bringt. Es gibt kaum eine Chance, die sozialen Kompetenzen, die Entscheidungsfähigkeit der nicht lesenden Gruppen mit niedrigem Bildungsniveau zu fördern. Aus den Daten zu Bildungsniveau und Lesekompetenz geht zudem hervor, dass heutzutage bereits auch ein erheblicher Anteil der Personen mit einer mittleren oder hohen Schulbildung nicht mehr für das Lesen von Büchern zu gewinnen ist.
Die Kraft der Kommunikation zwischen den gesellschaftlichen Gruppen, das heißt, das Maß an sozialer Integriertheit ist währenddessen sehr schwach. Soziologische Studien belegen eindeutig, dass die ungarische Gesellschaft stark segmentiert ist und dass sich verschiedene Gruppen abschotten. In diesem Prozess ist vorerst keinerlei Wende in Aussicht. Das bedeutet, dass die Gesellschaft nun bereits auf mehrere Generationen zurückgehend voller Einschlüsse ist, ein Trend, der durch die Verbreitung der Internetkommunikation zusätzlich verstärkt wird. Aus denselben Studien und aus persönlichen Erfahrungen ist auch ersichtlich, dass die Werteordnung der ungarischen Gesellschaft eher autoritär ist als rational und dass das Obrigkeitsdenken, je weniger Einwohner die Gemeinden zählen, umso kennzeichnender ist. In Kleingemeinden ist die Situation besonders schlecht. Die zivile Gesellschaft ist hier unentwickelt oder hat sich sogar zurückentwickelt, die Bewohner der Dörfer und Gemeinden leben meist so, dass sie sich der Führungsschicht unterordnen und diese Attitüde der Unterordnung weitervererben. Währenddessen ist das Bedürfnis nach nicht-rationalen Erklärungen in allen Lebensbereichen hinsichtlich der gesellschaftlichen Orientierung gewachsen, und zwar nicht nur unter den Personen mit einer niedrigen Schulbildung. Zu alldem muss hinzugefügt werden, dass in den kleinen und mittleren Gemeinden nicht mehr die Intellektuellen die führende Rolle einnehmen, sondern die Kleinunternehmer, die laut Multiple-Choice-Fragebögen sehr viel toleranter in Bezug auf Norm- und Gesetzesverletzungen sind als die Intellektuellen.
Das institutionelle System der Literatur, der Literaturmarkt
Die Beschreibung dessen, wie das institutionelle System funktioniert, sollte mit der wichtigsten objektiven Angabe begonnen werden. Die Einwohnerschaft Ungarns beträgt etwa 9,6 Millionen Personen, darüber hinaus leben – im Karpatenbecken sowie in Europa und im übrigen Teil der Welt – zirka 2,5 Millionen Menschen, die die ungarische Sprache aktiv gebrauchen. Die Zahl der außerhalb Ungarns lebenden ungarisch Lesenden beträgt nach meinen Schätzungen unter Berücksichtigung aller Altersklassen also höchstens 2,5 Millionen Menschen. Die Mehrheit dieser lebt an Orten, wo es keine Buchläden oder Bibliotheken mit ungarischsprachigen Büchern gibt. Eine weitere Angabe diesbezüglich ist, dass der Anteil an Büchern, die aus dem Ungarischen in eine Fremdsprache übersetzt werden, nicht einmal ein Prozent der gesamten weltweit übersetzten Literatur ausmacht. Im Vergleich dazu: Die Originalsprache der heute in irgendeine Sprache übersetzten Bücher ist zu ungefähr 60 Prozent Englisch. Ausgangssprachen wie Spanisch, Französisch, Deutsch, Italienisch und Russisch machen jeweils ein bis fünf Prozent der Gesamtzahl aus. Alle übrigen Sprachen, darunter auch solche wie Chinesisch oder Arabisch, bleiben jeweils unter einem Prozent. Die staatliche Übersetzungsförderung, die in jedem europäischen Land – zuweilen mit äußerst hoher finanzieller Zuwendung – existiert, wurde in Ungarn in den vergangenen Jahren nach und nach abgebaut und zum Jahr 2023 vollkommen eingestellt.
Um zu verstehen, über welche Mittel der Machtapparat heute in Ungarn im Literaturbereich verfügt, bedarf es eines Rückblicks auf die Zeit der Entstehung des Buchmarktes. Der tatsächliche Buchmarkt bildete sich in Ungarn nicht sofort nach 1989 heraus, sondern erst in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre, als die Soros-Stiftung die bis dahin überaus großzügige Förderung der kulturellen Sphäre einstellte. Wie in jeder Marktsituation wehrten sich die Hersteller, das heißt die Verlage, auch in diesem Bereich durch ein gewisses Maß an Überproduktion gegen die Ungewissheit und versuchten so, einen Zustand des Gleichgewichts aufrechtzuerhalten. Zu einer weiteren Verringerung des Risikos entstanden in den 1990er-Jahren Konsortien, die Vertrieb, verlegerische Tätigkeit und landesweite Buchladenketten in einer einzigen Organisation vereinten. Jene unabhängigen Verlage und Autoren, die nicht Teil dieser Konsortien waren, mussten sehr große Nachteile in Kauf nehmen. Aufgrund der relativen Überproduktion und der Interessen der Vertriebsnetzwerke wurde auch der ungarische Buchmarkt durch den kurzfristigen Profit gelenkt. Wenn die Kunden kein ständiges und maßgebliches Interesse an einem Buch zeigten, gelangte es häufig binnen Wochen aus dem Vertriebssystem. Die Logik des kurzfristigen Profits erdrückte die kleinen unabhängigen Verlage jedoch. Dabei war es irrelevant, dass die literarische Innovation häufig von diesen risikobereiten kleinen Verlagen ausging. Die größeren Verlage waren ständig gezwungen, das Gleichgewicht zwischen Publikationen, die kurzfristig großen Profit einbrachten, und Büchern, die ein Prestige bedeuteten, zu halten. Infolgedessen ist der ungarische Buchmarkt stark standardisiert und hemmt die innovativen Bestrebungen in der Literatur.
Wie bereits erwähnt, ist der gesellschaftliche Anteil an regelmäßig Lesenden in den vergangenen zehn Jahren dramatisch gesunken. Ihre Zahl wird durch die Krisen weiter verringert. Heute ist bereits zu sehen, dass die durch Corona verursachten Einschränkungen diesen Prozess für kurze Zeit gestoppt haben, die Auswirkungen nach der Öffnung jedoch noch stärker zu spüren waren. Wer genau jene Menschen sind, die heute in Ungarn regelmäßig Bücher kaufen und lesen, was ihre kulturellen Ansprüche sind, kann man nicht genau sagen. Wie in jedem europäischen Land handelt es sich dabei überwiegend um in Großstädten lebende Akademiker:innen oder Student:innen kurz vor dem Diplom. Vermutlich dominieren unter ihnen diejenigen, die zu den Altersklassen 18–30 und 60+ gehören. Eine weitere Erfahrung ist, dass innerhalb der Gesamtmenge verkaufter Bücher der Anteil an Kinderbüchern, Jugendliteratur, Kochbüchern sowie Lebensratgebern und Büchern zur Lebenshilfe beständig steigt. Die unter zunehmend schwierigeren wirtschaftlichen Verhältnissen lebenden Familien verzichten bei ihren kulturellen Ausgaben als Letztes auf den Kauf von Kinderbüchern. Der Preis für belletristische Bücher bewegt sich allgemein zwischen 6.000 und 8.000 Forint. Das sind umgerechnet 15 bis 20 Euro, was gemessen an westeuropäischen Maßstäben kein hoher Preis ist. Die wahren Relationen sind jedoch nur dann spürbar, wenn man in Betracht zieht, dass die ungarischen Löhne bei gleicher Arbeit in etwa ein Drittel der Einkommen in Deutschland betragen. Die Preise steigen im Übrigen aufgrund des rasanten Anstiegs der Papierpreise und Druckkosten, der seit 2018 spürbar ist, auch in Ungarn kontinuierlich. Da sich der Preis für E-Books vorerst noch an jenem der im Druck erscheinenden Bücher orientiert, ist der Absatz bislang gering. Selbst heute ist es selten, dass ein Buch nur als E-Book zugänglich ist, als Buch aber nicht. Der Anteil an anspruchsvoller Literatur ist, an der Gesamtheit des Buchmarktes gemessen, verschwindend gering.
Das institutionelle System des Buchmarktes ist vor dem Hintergrund der Schrumpfung instabil. In Ungarn existieren zwei große Vertriebsnetzwerke. Diese sind in Besitz von fast 100 Prozent der Buchläden sowie des gesamten Online-Vertriebs (Amazon ist in Ungarn derzeit noch nicht präsent). Das ausgedehntere Vertriebsnetz und die dazugehörige Ladenkette mit Namen Libri wurde vor Kurzem von dem ideologischen Spitzeninstitut des Orbán-Regimes, dem Mathias Corvinus Collegium, aufgekauft. Damit ist ein maßgeblicher Teil des Buchmarktes unter dessen Kontrolle gelangt und mit ihm auch das größte Verlagskonsortium des Landes, innerhalb dessen der bedeutendste unabhängige Verlag der 1990er-Jahre, der Jelenkor Kiadó, den vor zehn Jahren die Libri Verlags-GmbH (Libri Kiadói Kft.) aufgekauft hatte. Das andere Vertriebsnetzwerk, Líra és Lant, das in den größeren ungarischen Städten ebenfalls über eine Vielzahl an Buchläden verfügt, ist ebenso in Besitz von zahlreichen Verlagen, darunter ist Magvető Kiadó der traditionsreichste Verlag für zeitgenössische ungarische Literatur. Als relevanter unabhängiger Literaturverlag ist allein Kalligram auf dem Markt geblieben. Darüber hinaus kämpft eine Vielzahl unabhängiger Buchverlage ständig ums Überleben. Ihre Situation wird dadurch erschwert, dass die Vertriebsnetze 50 bis 60 Prozent des Verkaufspreises der Bücher als Provision erhalten. Das verschafft den Buchverlagen besagter Vertriebsnetze gegenüber den übrigen Verlagen einen unschlagbaren Vorteil. Auch die Autoren strömen zu den großen Konsortien, jedoch ist deren Kapazität beschränkt. Die Publikation von Lyrikbänden ist heute in den Verlagsprogrammen auf ein Minimum gesunken.
Das Instrumentarium des Machtapparats ist heute in Ungarn im Bereich der Literatur sehr viel eingeschränkter als vor 1989. Eine unmittelbare Zensur gibt es weder vor Erscheinen eines Werkes noch danach. Dennoch sind Zensur-Tendenzen zunehmend stärker spürbar. 2023 hat das Parlament ein Gesetz zum mentalen Schutz der Kinder verabschiedet, das in Wirklichkeit die Sichtbarkeit und Repräsentanz von Personen, die zu LGBTQ-Communitys gehören, in der Gesellschaft unmöglich macht. Laut diesem Gesetz müssen in Buchläden alle Bücher, die in irgendeiner Weise und egal in welchem Umfang Homosexualität oder Transidentität darstellen beziehungsweise homosexuelle oder transgeschlechtliche Figuren beinhalten, in Folie verpackt und in den Buchläden an einer gesonderten, praktisch unzugänglichen Stelle aufbewahrt werden. Erklärtes Ziel des Gesetzes ist, dass minderjährige Kunden nicht unkontrolliert an solche Bücher gelangen. In Wirklichkeit hat das Gesetz sie unerreichbar gemacht, und die Verlage nehmen daher Abstand von der Herausgabe von Büchern, die unter das Gesetz fallen. Eine der betroffenen Autorinnen, Eszter T. Molnár, äußerte sich zur Auswirkung des Gesetzes vor Kurzem, wie folgt:
Wollen wir wirklich engstirnige Jugendliche großziehen, die die Realität nicht akzeptieren? Ein erschreckender Gedanke, doch können wir in der derzeitigen Rechtslage nichts anderes tun, als vor den Jugendlichen über die Homosexualität zu schweigen und sie dann, wenn sie 18 Jahre alt sind, plötzlich mit den Fakten konfrontieren. Aber die Welt findet vor unseren Augen statt, die Wirklichkeit kann man nicht verleugnen.4
Auf die Frage des Journalisten, ob sie das Gesetz als Kinderbuchautorin bei der Wahl des Themas beeinflusse, antwortete sie: „Ich möchte glauben, dass ich keine Selbstzensur vornehme, aber das Gesetz beeinflusst mich sicherlich. Derzeit schreibe ich über einen Elefanten, und es ist vermutlich kein Zufall, dass ich mich nicht für einen menschlichen Protagonisten entschieden habe.“5
Für die Literatur wird sehr viel weniger Geld benötigt als für den Film oder das Theater, das relative Ausgeliefertsein ist jedoch nicht geringer. Die Publikation von Fach- und Literaturzeitschriften ist in jedem Fall ein Verlustgeschäft. Der Staat fördert die Zeitschriftenkultur seit 1990 durch theoretisch unabhängige Kuratorien in Stiftungsform. Die Situation der Zeitschriften ist ebenso fragil, sie sind genauso ausgeliefert wie die kleinen Verlage. Im Wesentlichen können sie nur das herausgeben, wofür sie vom Nationalen Kulturfonds (Nemzeti Kulturális Alap, NKA) eine Förderung erhalten, allerdings sitzen in den Kuratorien des Gremiums lauter Delegierte der Regierungspartei. Die Gemeinschaft der ungarischen Schriftsteller ist heute stark gespalten. Von beruflicher Solidarität oder einer einheitlichen Interessenvertretung des Literaturbetriebs kann nicht gesprochen werden. Dazu sind in Ungarn heutzutage nur sehr wenige Berufsstände in der Lage, im Allgemeinen nur im Zusammenhang mit konkreten Anliegen und für kurze Zeit. Anzumerken ist allerdings, dass diese Spaltung nicht erst nach 2010 eingetreten ist. Die ihr zugrundeliegenden Ursachen existierten bereits vor 1990, in den Jahren nach der Wende jedoch hat sich die Spaltung vertieft und die Situation sich zunehmend verschlechtert. Nach 1990 nutzte jede politische Macht diese Gegensätze – mit unterschiedlichen Mitteln und in unterschiedlichem Maße – für die Durchsetzung der eigenen Interessen.
Die Situation der Schriftsteller ist überaus schwierig. Nur sehr wenige können vom Markt und von den Autorenhonoraren leben, die sie für im Ausland erscheinende Übersetzungen bekommen. Die renommiertesten unter den älteren Autoren erhalten für ihr Lebenswerk seit einer ganzen Weile eine Zuwendung, was auch von Fidesz nicht abgeschafft wurde. Die Regierung hat ein Stipendienprogramm für Schriftsteller ins Leben gerufen, die zur jüngeren und mittleren Generation gehören, doch bedeutet die Annahme des Stipendiums gleichzeitig auch eine Legitimation der kulturellen Bestrebungen des Machtapparats. Die Auszeichnungen und Stipendien für Autoren unterstehen fast allesamt der Kontrolle des Orbánschen Machtapparats. Darüber hinaus unterstützt die Regierung großzügig jene Schriftstellerverbände, die mit ihr verbündet sind, während die oppositionellen Schriftstellerverbände um das Überleben kämpfen. Unabhängige private Mäzene gibt es kaum in Ungarn, da kein einziges Großunternehmen daran interessiert ist, als oppositionell verbucht zu werden. Ein nicht unwesentlicher Anteil der Autoren, die nicht mit der Orbánschen Politik sympathisieren, hat deshalb heute seine eigenen Kompromisse mit dem Regime geschlossen, und es ist jeweils eine Frage des Typs, ob Selbstironie, Zynismus oder politische Ignoranz die öffentliche Haltung bestimmt.
Ziel der Kulturpolitik ist in der Theaterwelt ebenso wie in der Literatur, eine neue Elite zu erschaffen und die Dominanz und Popularität einer Literatur zu erreichen, deren ästhetische Prinzipien und deren Bild von der Wirklichkeit mit der populistischen Ideologie von Fidesz im Einklang stehen. Dieses Ziel ist es bislang nicht gelungen zu verwirklichen. Kennzeichnend für die Situation ist, dass die Regierung zwar Unmengen an Geld für Propagandazwecke ausgibt und sich in allen Belangen auf das nationale Selbstbewusstsein beruft, die Nachlässe der wichtigsten ungarischen Autoren der jüngsten Vergangenheit wie Imre Kertész, Péter Esterházy, György Konrád und Péter Nádas dennoch in der Berliner Akademie der Künste aufbewahrt werden, weil die Autoren beziehungsweise ihre Familien das Gefühl hatten, dass die Manuskripte nicht in Budapest, sondern in Berlin ihren würdigen und glaubwürdigen Platz finden würden. Diese unschätzbaren Werte der ungarischen Kultur, die einmal eine wichtige Rolle in der kulturellen und mentalen Erneuerung Ungarns spielen werden, wurden ins Exil gezwungen.
Der Markt erfordert ebenfalls Anpassung. In den 1990er-Jahren verfügten die Schriftsteller noch über keine Marktkompetenzen. Viele führten ein zurückgezogenes Leben, äußerten sich nicht gern, traten nicht öffentlich auf. Das hat sich jetzt radikal geändert. Zwischenzeitlich haben sich ganz neue Foren der Öffentlichkeit herausgebildet. Für die Älteren bedeutet Facebook das wichtigste Forum, für die Jüngeren Instagram. Auch die Verlage erwarten, dass ihre Autoren in den sozialen Medien präsent sind, sich äußern und sich zu Auftritten bereit erklären. Im Spektrum von den älteren bis zu den jüngeren Autoren haben sich radikal unterschiedliche Formen der Präsenz entwickelt. Zur Zeit von Corona garantierten diese Formen der Präsenz das Überleben der Literatur und bezogen auch solche Nutzer mit ein, die sonst keine Möglichkeiten hatten, an Literaturveranstaltungen teilzunehmen. Als erfolgreich gelten jene Autoren, die im Internet sehr aktiv sind und in ihren Texten relativ einfache, im Einklang mit Lebensratgebern stehende Botschaften formulieren. Unter Berücksichtigung ästhetischer Gesichtspunkte lässt sich sagen, dass das der Qualität der Literatur nicht zuträglich ist. Zur Verschlechterung der Qualität trägt außerdem bei, dass es keine niveauvolle unabhängige Kritik gibt. Im Bereich der Kritik hat sich die von den großen Verlagen kontrollierte kommerzielle Kritik durchgesetzt. Ein anderer Grund ist, dass in den vergangenen Jahren viele Schriftsteller verstorben sind – ein Teil von ihnen sehr jung –, deren kulturelles Kapital in breiten Kreisen Anerkennung genoss und die sich auch in anderen Sprachen ein Ansehen erkämpft hatten. Die Verlustliste der letzten Jahre ist imposant. Zu den wichtigsten gehörten Imre Kertész, Péter Esterházy, György Konrád, Ferenc Juhász, Dezső Tandori, Szilárd Borbély und János Térey. Ihre Präsenz, ihr Wort galten als Maßstab.
Können wir nach alldem ganz allgemein Fragen zur ungarischen Literatur stellen? Können wir danach fragen, ob es in der Literatur den entsprechenden Widerstand gibt, damit weder die Macht noch der Markt ihr die eigenen Zwänge auferlegen kann? Zwischen Macht und Markt gibt es natürlich einen Unterschied. Zur Erneuerung seiner Kunst können den Autor außer den Möglichkeiten, die sich im Stoff bergen, auch die Marktrealitäten anspornen, die Realität der Macht aber wohl kaum. Ich selbst glaube, dass gute Literatur nur aus dem Widerstand heraus entstehen kann. Gute Literatur revolutioniert die in der Sprache stattfindenden Wahrnehmungsprozesse, und es brennt in ihr der Wunsch, diesen radikalen Schritt immer wieder aufs Neue zu tun und die Hoffnung zu erwecken, dass dies möglich ist. Literatur an sich existiert jedoch letzten Endes nicht. Es gibt Schriftsteller, Bücher, Werke, die entstehen, Sätze, die darauf warten, beendet zu werden. Es gibt Lesende, und es gibt sehr, sehr viel mehr Nicht-Lesende. Zweifel und Antworten. Verzweiflung und Hoffnung. Hier und jetzt, an einem Ort namens Ungarn, auf einem Kontinent namens Europa. Ich sitze hier und arbeite. Oder sitze hier und kann nicht arbeiten. Ich treffe Entscheidungen. Entscheide auch über meine eigene Politik. Für mich ist das Literatur. Die Vollkommenheit meiner Freiheit, die ich in der Öffentlichkeit sichtbar mache. Und ob mein Leben ein ausgetauschtes Leben ist? Wie jede Geschichte hätte sich auch meine anders entwickeln können, ich hätte andere, manchmal bessere Entscheidungen treffen können. Aber was geschehen ist, was ich getan habe, das bin ich. Ich tausche mein Leben nicht aus, kann es nicht austauschen. Ich sehne mich nicht nach einem anderen. Ich bin dafür verantwortlich. Seine Ufer überraschen mich oft mit Ausbuchtungen, wilden Pflanzen und Tieren, doch gehören sie alle zu mir. Das ist meine Zeit, mein Platz irgendwo in Europa, irgendwo auf dem Planeten. Ich schreibe, spiele und entscheide. Experimentiere. Bin freier Widerstand.
Aus dem Ungarischen von Eva Zador
- Übersetzung von Eva Zador. ↩︎
- Auszug aus einem undatierten, unveröffentlichten Tagebuch von Imre Kertész. ↩︎
- György Fekete (1932–2020), Architekt, Politiker, zwischen 1994 und 1998 Abgeordneter im ungarischen Parlament, 2011–2017 Vorsitzender der Ungarischen Akademie der Künste (Magyar Művészeti Akadémia, MMA), die im Bereich der Kunst als eine Partnerinstitution von Fidesz agiert. ↩︎
- „Tényleg szűk látókörű fiatalokat akarunk nevelni?“ [Wollen wir wirklich engstirnige Jugendliche großziehen?], Interview mit Eszter T. Molnár auf Magyar Hang, 6.1.2024, <https://hang.hu/budaihang/molnar-t-eszter-budai-hang-klimavaltozas-termeszettudomany-interju-irodalom-160295>, 18.3.2024. ↩︎