In Bewegung | Elisabeth Schneider: Nach dem Wassertag | Besprechung
von IKGS München
Eine Zugfahrt von Bosnien nach Deutschland ist auch heute lang. Unvorstellbar lang muss sie Anfang des 20. Jahrhunderts gewesen sein, als Bosnien zu Österreich-Ungarn gehörte und die Lokomotive schrille, durchdringende Pfeiftöne von sich gab.
2. Juli 2024Elisabeth Schneider: Nach dem Wassertag. Roman. Berlin: Palm Art Press 2023. 347 S. | Besprechung
An einem Tag im September 1912 macht sich eine donauschwäbische Familie auf den Weg: der Eisenbahner Franz Wenzel mit seiner Frau Maria und mit zwei seiner fünf Kinder, dem fünfjährigen Josef und der zweijährigen Leni. In Bosnien arbeitslos geworden, bietet sich ein Neuanfang auf der Hamburger Werft an. Bei der Verwandtschaft in der Nähe von Fünfkirchen (ung. Pécs) werden die drei älteren Töchter vorerst untergebracht – mit der Absicht, sie später nach Hamburg zu holen. Die Zugfahrt ist so lang, dass Maria, die Hauptfigur des Romans, ihr Leben Revue passieren lässt.
Als Zwölfjährige war sie schlagartig erwachsen geworden – an jenem Tag, als im sieben Kilometer von der Drina entfernten deutsch-protestantischen Dorf Franz-Josefsfeld (heute Novo Selo in Bosnien) der Satz widerhallte: „Die Drina ist da!“ (S. 56) – und die Glocken Sturm läuteten. Nach dem sogenannten Wassertag, der großen Überschwemmung am 11. November 1896, als sich der Fluss in einen reißenden Strom verwandelte und alles zerstörte, stand die Familie „wie gemeißelt vor ihrem zerstörten Heim“. (S. 55) Zwei Wochen später verstarb Marias Mutter an Erschöpfung. Ein Einschnitt: Danach war nichts mehr, wie es war. Maria, das begabte Kind, das sich in der Schule zu Hause fühlte und Lehrerin werden wollte, musste ab sofort ihre zwei älteren sowie die drei jüngeren Brüder versorgen und den prügelnden, strenggläubigen Vater, der ihr jedes Vergnügen verbot, ertragen. Was der strenge Protestant als Erstes von Marias Tagesordnung strich, war die Schule: „Dem Vater […] waren die Lernfreude und der Bildungshunger seiner Tochter schon immer ein Dorn im Auge gewesen. Was brauchte er eine gelehrte Tochter? Arbeitsam und gottesfürchtig sollte sie sein!“. (S. 73) Doch wusste Maria sich zu helfen und deckte sich über ihre beste Freundin Josefina mit Büchern ein. Als Ersatzmutter ging sie ihren Pflichten gewissenhaft nach, doch als der Vater ihr Bücherversteck entdeckte, ihren Bücherschatz samt einigen Postkarten ihres Verehrers Franz verbrannte und sie verdrosch, war für sie eine Grenze überschritten. Sie ließ sich vom ortsfremden Eisenbahner Franz am Pfingstmontag 1900 entführen und schloss mit ihm, obwohl nur 14-jährig, im bosnischen Tuzla eine seit 1868 gesetzlich zugelassene Zivilehe. Kirchlich konnten Paare wie Franz und Maria zur damaligen Zeit nicht heiraten: Donauschwaben waren zwar beide, doch war Maria evangelisch, Franz – aus Harkan (ung. Harkány) südlich von Fünfkirchen stammend – katholisch.
Nach zwölf Jahren, als sie im Zug sitzt und über das Leben sinniert, muss sie sich eingestehen, dass sie es nie leicht hatte – auch an der Seite ihres sozialdemokratisch gesinnten Gatten nicht. Ihr Kampf um Gleichberechtigung ging weiter – das Versteckspiel ebenfalls: Trotz seiner Aufgeschlossenheit gönnte ihr der Gatte auch keine schulische Weiterbildung, und ihr Versteckspiel nahm neue Formen an. Dem Kampf der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei für soziale Gerechtigkeit und für die Gleichberechtigung sowie für das Wahlrecht der Frauen stimmte Franz zwar theoretisch zu, doch in der Praxis beanspruchte er Maria nur für sich.
Noch als kleines Mädchen hatte Maria ihre Herkunftsgeschichte von ihrer verstorbenen Mutter erfahren: „Die Menschen kommen aus den verschiedensten Ländern. Manche mussten fort aus ihrer Heimat, weil sie ihre Religion dort nicht ausüben durften. Auch euer Urgroßvater ist einst vom Schwabenland ins Banat umgesiedelt. Dort gab es Land für ihn, und er konnte mit seiner Glaubensgemeinschaft ein evangelisches Dorf gründen“. (S. 35) Auch nach dem Umzug nach Bosnien durfte die Familie „dank der Monarchie“ (S. 35) ihre Religion, Kultur und Sprache uneingeschränkt pflegen. Besonders an Markttagen kam diese Vielfalt zum Tragen.
Als Eisenbahner-Gattin gab es in Marias Leben häufige Ortswechsel: Ihre erste Station war das Dorf Simin Han, sieben Kilometer von Tuzla (serb. Тузла) entfernt. Da ihr Mann zehn Stunden am Tag arbeitete und nur Sonntag frei hatte, konnte Maria die Zeit für sich nutzen: In Tuzla entdeckte sie eine „Lesehalle“. (S. 190) Da diese nur für Männer zugänglich war, verkleidete sie sich als Junge und lieh sich Bücher aus. In ihrer Wohnsiedlung unterrichtete sie Kinder, aber auch wissbegierige Arbeiterfrauen – und gewann in kurzer Zeit die „Anerkennung der Menschen“. (S. 202) Ihre größte Entdeckung war schließlich der „Frauenbildungsverein“. (S. 207) Fortan war sie bei den Leiterinnen des Vereins ein gern gesehener Gast. Von ihnen wurde Marias Bestreben, ihren Schulabschluss nachzuholen und die Mittlere Reife zu absolvieren, tatkräftig unterstützt. Doch musste sie ihrem Mann alles „verschweigen und verheimlichen“. (S. 217) Wie bitter, zugeben zu müssen: „Der Mann war Vormund der Kinder und seiner Ehefrau. Franz war ihr Befehlshaber!“. (S. 223) Hilft nur, die Axt in die Hand zu nehmen und „voller Wut auf Franz, ihren Vater und überhaupt alle Männer“ (S. 222) Holz zu hacken. Doch Maria ist es – trotz massivem Widerstand – gelungen, ihren Bildungsweg zu Ende zu gehen.
Im Herbst 1901 ging es weiter: nach Teslić (serb. Теслић), einem „Industriestandort für deutsche und österreichische Holz-Unternehmen“ (S. 247), der dank der frühzeitig angelegten Eisenbahnstrecken florierte. Franz wurde hier für seine Arbeit besser bezahlt, Maria scharte einen Schülerkreis um sich und schloss sich den Frauen im „Arbeiterleseverein“ (S. 250) an. Franzʼ Bemühen, einen bosnisch-herzegowinischen Gewerkschaftsbund zu gründen, wurde als „sozialistische Agitation“ (S. 255) gewertet, er verlor seinen Job. Als ausgebildeter Kupferschmied boten sich ihm auch andere berufliche Möglichkeiten an, doch er wollte Eisenbahner bleiben und ging mit seiner Familie nach Sarajevo (serb. Сарајево). Diese Station erwies sich für Maria als die glücklichste: Zum ersten Mal wurde sie für ihre Arbeit entlohnt – im Hotel des Onkels ihrer Freundin Josefina betreute sie die Kinder der Gäste und gleichzeitig ihre eigenen. Den Umgang mit der aufgeschlossenen, kosmopolitisch gesinnten Familie ihrer Freundin, die in der Zwischenzeit Fotografin geworden war, genoss sie in vollen Zügen. Franz arbeitete bei der Bosnischen Ostbahn an der historischen Strecke von Dobrun (serb. Добрун) über Višegrad (serb. Вишеград) nach Vardište (serb. Вардиште), an einer „der interessantesten Strecken Europas“ (S. 275) – „nicht allein aufgrund ihrer überwältigenden Natur, sondern auch wegen der monumentalen Bauten, der Tunnel, Brücken und Viadukte“. (S. 275) Doch auch dieser Arbeitseinsatz ging zu Ende, in Bosnien wurden keine Eisenbahner mehr gebraucht: Franz verlor erneut seinen Job – und die Nerven. Der „liebestolle Brauträuber“ (S. 317) verwandelte sich in ein „trunksüchtiges Prügeltier“. (S. 317) Doch blieb Maria an seiner Seite – und wagt mit ihm den Neuanfang. Als ihr im Zug Richtung Hamburg Tränen übers Gesicht laufen, wird sie ihrem Sohn Josef erklären: „Manchmal ist es schwer, etwas hinter sich zu lassen, das man niemals wiedersehen wird“. (S. 323)
Der autobiografisch gefärbte Debütroman der Hamburger Journalistin Elisabeth Schneider liefert ein einzigartiges Panoramabild vom Leben in einer ethnisch wie konfessionell bunten Region. In ihrem Nachwort erklärt die Autorin ihre Absicht: das Leben ihrer Großmutter, die sie nicht kennengelernt hat, anhand überlieferter „markanter Lebenslinien“ nachzeichnen zu wollen. Vieles ist der Fantasie entsprungen, der historische Kontext wie die Umsiedlung von Franzfeld im serbischen Banat an die Drina nach Bosnien, die Gründung des deutsch-protestantischen Dorfes Franz-Josefsfeld, der „Wassertag“, die Zerstörung und der Wiederaufbau des Dorfes und anderes sind jedoch „verbriefte Geschehnisse“. (S. 332) Zudem fasst die Autorin die wichtigsten historischen Fakten und Zusammenhänge, die zum besseren Verständnis der Romanhandlung beitragen, kurz zusammen, sodass es sich für den unkundigen Leser anbietet, das Nachwort zuerst zu lesen. Die Autorin geht auch dem Beitrag der Deutschen zum technischen Fortschritt in dieser Region nach, beleuchtet den Beginn der Gewerkschaftsarbeit und die Anfänge der Sozialdemokratischen Partei. Was dieses Buch jedoch besonders auszeichnet, ist, dass es eindrücklich den unerschütterlichen Kampf der Frauen um Bildung beschreibt.
Von Ingeborg Szöllösi