Maria Bidian: Das Pfauengemälde. Roman. Wien: Zsolnay Verlag 2024. 320 S.

Das titelgebende Pfauengemälde symbolisiert einerseits die endlose Sehnsucht des Vaters nach Gerechtigkeit und Wiedergutmachung; andererseits kennzeichnet es seine durch Traumata bedingte Unfähigkeit, über die erlebten Ereignisse und Verluste zu sprechen. Der Wunsch, das Pfauengemälde in Rumänien zu finden und damit die Wahrheit über das Leben ihres Vaters zu erfahren, löst in Ana vielerlei Erinnerungen aus, auf deren Pfade sie den Leser in eindrucksvollen Bildern, Szenen und Tagebuchnotizen mitnimmt.

Um das Pfauengemälde spinnen sich Mythen: Die einen meinen, das Gemälde sei von einer armenischen Prinzessin nach Rumänien gebracht worden, die anderen glauben, der Urgroßvater hätte es von einer Reise aus Jerusalem mitgebracht. In mehreren Episoden, die Szenen in einem Film gleichen, begibt sich Ana nach Siebenbürgen in Rumänien. Sie entflieht für eine Weile dem Leben in Deutschland, wo sie als engagierte Filmemacherin arbeitet, in den wenigen freien Stunden zum Kampfsport geht und Michael kennenlernt. Die Romanze mit dem kühnen Mann befreit sie für kurze Zeit aus dem Strudel der alltäglichen Verantwortung und aus der Trauer um den verstorbenen Vater. Das Gefühl der Einsamkeit kehrt zurück, als Ana die Nachricht ihrer Großcousine Kiki auf dem Anrufbeantworter abhört. Der Prozess um das im Kommunismus enteignete Erbe der Familie sei nach 30 Jahren beendet und Anas Anwesenheit erforderlich. In ihrem Briefkasten findet sie ein Schreiben mit rumänischer Briefmarke, das sie jedoch nur zögerlich öffnet. Zu schwer wiegt die Erinnerung an den Tod des Vaters vor zwei Jahren. Hätte Ana dessen Tod womöglich verhindern können, wenn sie mit ihm nach Rumänien gereist wäre und das Pfauengemälde abgeholt hätte? Ana hat schöne Erinnerungen an die Sommerferien in Rumänien. Sie verbrachte sie mit ihren Eltern in der Umgebung von Hermannstadt (rum. Sibiu, ung. Nagyszeben), das im Roman nicht als solches benannt wird. Inmitten der weitverzweigten bürgerlichen Großfamilie, die den der Philosophie verfallenen Vater über alles liebte, erlebte sie kleine und große Abenteuer in einer eigentümlichen Welt, die sie nun erneut zu entdecken beginnt. Ana begibt sich auf ihre eigene Reise, allein, ohne Vater, um sich mit ihren Erinnerungen auseinanderzusetzen. Was von den Erzählungen des Vaters ist wahr, was war nur eine Idee oder ein Wunsch? War Nicu tatsächlich ein antikommunistischer Held, dessen Kampf um die Wahrheit ihn schließlich in die Emigration nach Deutschland brachte?

Die Protagonistin hat Angst vor dem Fliegen und entscheidet sich, mit dem Zug nach Siebenbürgen zu reisen. Der Zug startet in der Mitte Deutschlands und fährt sehr lange. Im Gepäck sind ein Trauertagebuch und ein Notizheft, in welche Ana beständig Wahrnehmungen, eigene Gedichte und gehörte Geschichten niederschreibt. Das Schreiben und das Filmen sind ihre Zufluchtsorte, wenn die Trauer sie einholt. An der rumänischen Grenze rauschen Bilder eines von Landwirtschaft geprägten Landes an ihr vorbei. Ana erinnert sich an die Grenzkontrollen in ihrer Kindheit und die Banane, die der Vater beim Autofahren verschlang. Das Auto war voll mit Büchern und Süßigkeiten. Die Mutter, die kein Rumänisch verstand, sang dennoch beschwingt in dieser fremden Sprache. Ein im Dialekt der rumäniendeutschen Minderheit sprechender Reisender holt die Protagonistin zurück in die Gegenwart. Zwei Männer in grüner Uniform attestieren Ana, dass ihr rumänischer Reisepass morgen seine Gültigkeit verliere. Mit ihrem deutschen Pass, den sie nun vorzeigt, erhält sie sofort die Bestätigung weiterfahren zu können. Ana saugt mit allen Sinnen auf, was sie wahrnimmt. Ihr Entschluss ist immer noch sehr stark: „Ich werde das Pfauengemälde abholen. Ich werde das beenden, was Nicu nicht beenden konnte“. (S. 25) In der rumänischen Stadt wird sie stürmisch von ihrer Großcousine Kiki begrüßt. Nach einer turbulenten Autofahrt durch die Stadt bei großer Hitze kommen sie vor Tante Lias Haus an, wo sie mit ihren Eltern die Sommerferien verbrachte, in diesem geheimnisvollen, weit entfernten Land, von dem ihre Freunde zu Hause nichts verstanden. Szenenartig wie im Film tauchen die freudestrahlenden Zwillinge ihres Cousins Iancu auf, versammelt sich die Großfamilie am Tisch, die bereits neugierig auf den von weither angereisten Gast gewartet hat. In Ana sehen sie den heldenhaften Vater, der schmerzlich vermisst wird. Nach und nach stellt sich heraus, dass damals fast niemand in der Familie von dessen Fluchtgedanken gewusst hatte. Mit Ana hoffen sie auch, der Vergangenheit ein wenig näher zu kommen. Alle Geschwister des Vaters und Anas Cousinen und Cousins sind dafür angereist: Tante Judit aus Bukarest, Iancu und Adriana. Zwischendrin springt André ins Bild, der Vater von Marius, mit dem Ana abenteuerliche Sommertage verbrachte. Es wird großzügig aufgetischt, viel getrunken, die Familie schwelgt in Erinnerungen und erzählt von der Überraschung, dass das einst prunkvolle rumänische Haus nun endlich wieder in Familienbesitz sei. Am Wochenende wolle die Familie dorthin fahren, um sich näher anzusehen, was vom ursprünglichen Besitz geblieben sei und in welchem Zustand sich das Haus befinde.

Anas Bilder vom Vater verschwimmen und werden gleichzeitig schärfer: Wie viele unterschiedliche Nicus gibt es eigentlich, wer war Nicu in Rumänien, und unter welchen Umständen verstarb er – schwirrt es der Protagonistin immer wieder durch den Kopf. Der Widerstand gegen das politische Regime, so findet Ana heraus, zieht sich wie ein roter Faden durch die Familiengeschichte: Nicus Vater wurde verhaftet; später kommt Nicu selbst ins Securitate-Gefängnis, das einst das Bankgebäude des Urgroßvaters war. Die politische Gewalt, die die Familienmitglieder erleiden, ist nicht greifbar, weil überwältigend. In der Dunkelkammer in Tante Lias Haus entdeckt Ana auf alten Bildern nach und nach die Geschwister des Vaters. Nicu, ein nachdenklicher Idealist, war der Älteste von ihnen. Über dessen Brüder weiß Ana bemerkenswert wenig; der jüngste, Horia, wurde während der Revolution 1989 in Temeswar (rum. Timişoara, ung. Temesvár) erschossen; Titus wanderte mit Frau und Kind nach Deutschland aus. Ana kann sich nicht erklären, was ihren Vater Jahre nach seiner Flucht bewogen hatte, in Rumänien in die Berge zu gehen. Nach und nach werden dem Leser weitere Details über den mysteriösen Tod ihres Vaters in der Berghütte bekannt, kurz nach der Feier, bei der er eine Widerstandsurkunde verliehen bekommen hatte. Auch diesen Ort besucht die Familie. Sie verbringt einen beschwingten Abend und weitere Fragen drängen sich auf.

Ana ist Dokumentaristin und Protagonistin der Reise zugleich. Sie entdeckt nicht nur die Spuren des Vaters, der ein Held sein wollte, sondern taucht tief in das gegenwärtige, von politischen Protesten gezeichnete Rumänien ein, erlebt erneut laue Sommerabende im Dorf und in der Stadt. Das seltsame Paar Viorel und Raluca, dem sie zufällig in einer Bar begegnet, fordert sie auf, mit zu einer Demonstration nach Bukarest zu kommen. Zuvor wird Ana selbst in die Mühlen der rumänischen Bürokratie hineingeworfen. Alles in diesem Land scheint der Verzögerung unterworfen zu sein. Sie lernt Rumänien als politisch gespaltenes Land kennen, mit unsicheren Aussichten für die jüngere Generation, die aufbegehrt und zu Protestaktionen aufruft. Auch Ana will das Protestieren erleben, so wie einst ihr Vater dafür brannte. In Bukarest nimmt sie an einer politischen Demonstration teil, wird verletzt und kommt schließlich in das Haus von Elise, der ersten Ehefrau des Vaters. Hier endet ihre beharrliche Suche nach dem Pfauengemälde, das es nicht zu geben scheint. Von Elise erfährt Ana, dass das Gemälde die Geschichte symbolisiere, die über die schmerzhafte Wahrheit der Familie gelegt wurde. Man flieht vor den schrecklichen Erfahrungen in Gefängnissen, die sich durch die Familiengeschichte ziehen, und versucht sich ein Stück Würde, Freiheit und den Glauben an Ideale zu bewahren.

Bidians Roman zeichnet in filmischen Bildern und Erinnerungen nach, welche Auswirkungen Stigmatisierung und politische Verfolgung auf nachfolgende Generationen haben. Diese tief liegenden transgenerationellen Traumata können nicht gelöscht, aber sensibel entdeckt und der Umgang mit ihnen gelernt werden. Anschaulich wird dem Leser vor Augen geführt, wie die Erinnerung den Blick auf die rumänische Gegenwart prägt und verändert. Der Autorin gelingt es auf beeindruckende Weise, komplexe Themen der kommunistischen Vergangenheit aufzugreifen und in der gegenwärtigen Gesellschaft widerzuspiegeln. Zuweilen begegnen dem Leser kleinere Fehler im Lektorat, die jedoch nicht stark ins Gewicht fallen. Vielmehr gelingt es der Protagonistin, den neugierigen Leser auf eine außergewöhnliche Reise mitzunehmen, die den nostalgischen Blick auf ein Land in den Mittelpunkt stellt und diesen sensibel hinterfragt. Da die Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte bekanntlich nie endet, bleibt auch das Ende der Reise im Roman ein offenes und man kann sehr gespannt sein auf die kommenden Bücher der Autorin.

Von Silvia Petzoldt 

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