,,Es war, und es war nicht“ | Iris Wolff: Lichtungen | Besprechung
von IKGS München
Klappern gehört zum Handwerk, und der Literaturbetrieb mit all den Veranstaltungen, Verlautbarungen und Veröffentlichungen jenseits der eigentlichen Texte hört sich fürwahr schon aus der Ferne wie ein Handwerksbetrieb an. In dessen sekundärer Betriebsamkeit findet das Primäre, Werkstoff und Erzeugnis, Sprache und Text, umso weniger Beachtung. Man mag sagen, das sei eben der Lauf der Welt in ihrem medienorchestrierten Taumel, man muss sagen, das sei nichts als recht und billig, wenn man sich die oft wohlfeilen Produkte anschaut. Umso mehr darf man sich freuen, wenn man eines in die Hand bekommt, bei dem man nichts zu sagen braucht, weil es selber für sich spricht. Zu besprechen gibt es dafür erfreulich viel.
14. Oktober 2024Iris Wolff: Lichtungen. Roman. Stuttgart: Klett-Cotta 2024. 256 S.
Im Künstlerischen ist die weibliche Hauptgestalt Kato ein Alter Ego der Erzählerin: „[…] diese Zuwendung, Hingabe, diese konzentrierte Abwesenheit hatte sie von Anfang an beim Malen gehabt“. (S. 20) In konzentriertester Anwesenheit übt Iris Wolff Zurückhaltung, und das meisterlich. Ihr Zugriff auf die Fülle des Stoffes ist dabei so beherzt, ja verwegen, wie dessen epische Ausbreitung bedachtsam, mit pfleglicher Hingabe bewerkstelligt wird. Und dass diese Feststellungen erst recht an den Bereich des Handwerks gemahnen, hat durchaus seine Richtigkeit. (Schon im 18. Jahrhundert hat der Möbelschreiner Roentgen die Geduld als erste Eigenschaft des Handwerkers bezeichnet. Fast wundert man sich, dass bei Betrachtung eines zeitgenössischen Textes vermeintlich altbackene, zumindest nostalgische Reminiszenzen an lehrbuchtaugliche Qualitätsvorstellungen aufkommen.) In diesem Buch gehen zeitgeschichtliches Wissen und menschliche Erfahrung mit der tradierten – wohltuend unmodischen – Einsicht einher, dass gerade solche Fracht zu feinsinnigem Umgang und künstlerischer Sorgfalt verpflichtet. Nur zu leicht redet zu viel, wer viel zu sagen hat.
Iris Wolff hat viel zu sagen und redet wenig, am allerwenigsten auf einen ein. Vielmehr rafft sie die erdrückende Schicksalstracht, an der ihre Hauptgestalt Lev zu tragen hat, zu hypothetischen Fragen: „Es wäre der Moment gewesen, seine Mutter zu fragen, ob sie daran glaubte, dass er eines Tages wieder laufen könne. Ob Bredica glücklich werden würde. Es wäre die Zeit gewesen zu fragen, ob sie seinen Vater vermisste. Aber es waren keine Fragen im eigentlichen Sinn, keine Worte und Sätze, es waren Anklänge, Richtungen der Gedanken, und so wurden sie nicht gestellt. Er hatte, auch jetzt in der Dunkelheit, auch wenn es solche Gespräche zwischen ihnen nicht gab, ein klares Bild von seiner Mutter. Das genügte“. (S. 196) Es genügt für einen ganzen Roman, über drei Generationen. Erzählen ist bei Iris Wolff Fragen post factum, Nach-Fragen.
Das Ende des Geschehens steht am Anfang des Buches, dieses beginnt bei Neun und endet bei Eins, der Spannungsbogen wird in der Zeit zurückgeschlagen. „In allem gab es diese Dunkelstellen, wo die Erfahrung aufhörte und die Erinnerung anfing. Etwas blieb, und etwas ging verloren, manches schon im Augenblick des Geschehens, und wie sehr man sich auch bemühte, es tauchte nie wieder auf. Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen. Man begegnete ihnen nur zufällig und wusste nie, was man darin fand. Die eindrücklichsten Momente, das, was sich nicht verlor, gehörte einem nie alleine. Die Angst gehörte einem alleine. Das Vergessen. Alles sonst, dachte Lev, bleibt nur durch andere gegenwärtig.“ (S. 76) In die Gemeinschaft all der „anderen“ führt Iris Wolff den Leser so behutsam ein, dass er sogar Angst und Vergessen als heilsam erfährt.
Lev „hatte eine siebenbürgisch-sächsische Mutter und einen rumänischen Vater; sein Großvater berief sich auf seine österreichischen Vorfahren. Lev, eine Mischung aus all dem, fühlte sich nicht verpflichtet, sich irgendwo einzuordnen“. (S. 25) Durch das Drama einer enttäuschten ersten Liebe und des Unfalltodes jener Frau gelähmt, muss er die erst recht lähmende Wirklichkeit des rumänischen Sozialismus und Postsozialismus mit all den privaten und politischen Peripetien zwischen Diktatur und Freiheit, Flucht oder Bleiben, Krankheit und Heilung durchstehen. Nicht immer kann Iris Wolff dabei im Konkreten bleiben, sie muss die kulturellen Eigenheiten des multiethnischen Siebenbürgens und den reichlich rätselhaften Nationalkommunismus der Ceauşescu-Ära in griffige, jedoch erratische Formeln fassen, die den Erzählfluss ins Strudeln bringen. Doch gelingt ihr das meist mit einer Beiläufigkeit, die den bitteren zeitgeschichtlichen Ernst wohltuend bricht: „Es gab viele Witze über das Staatsoberhaupt. Dabei war er ein Hoffnungsträger gewesen, Rumänien hatte als einziges Land des Warschauer Paktes keine Truppen nach Prag geschickt und unterhielt diplomatische Beziehungen zum Westen. Doch er hatte offensichtlich den Verstand verloren, seit er in China gewesen war; oder es war ihm zu Kopf gestiegen, dass man ihm in Deutschland das Bundesverdienstkreuz umgehängt hatte“. (S. 126)
Das ist kein Spaß, Aufhorchen aber kann Spaß machen. Lustig ist die Autorin nie, doch die Lust an Erkenntnisgewinn und Einblick in unauflöslich Verqueres und widersinnig Fatales spricht aus jedem Satz. Die umgekehrte Chronologie tut dabei ihren dialektischen Dienst: Was geschildert wird, nimmt stets vorweg, dass es nicht gar so böse gekommen ist, wie zu befürchten war. Wollte man Iris Wolff zu den neun Mottos aus verschiedensten Quellen, vom Propheten Daniel über einen siebenbürgischen Kinderreim bis zum polnischen Lyriker Adam Zagajewski, ein zehntes ans Herz legen, so wäre dies der rumänische Resignationsjauchzer: „Ȋncă n-a fost niciodată să nu fie cumva“ (Es war noch nie so, dass es nicht irgendwie gewesen wäre). Doch schon der Spruch, mit dem die Roma Märchen einzuleiten pflegen, als Motto des Anfangskapitels „Neun“ verheißt vieldeutig „Sas pe thai nas pe“ (S. 7): Es war, und es war nicht. Leben ist zwar der Sage nach ein „Ritt über den Bodensee“, doch man kann davon erzählen, und wenn man es so bedacht tut wie Iris Wolff, öffnet sich hinter dem Drama ein Raum.
In diesem Raum gelingt, was man als Siebenbürger selbst oft und gern bewerkstelligen möchte: Ein immer noch im Schattenreich europäischen Geschichtsbewusstseins harrender Kulturkreis wird ausgeleuchtet. Eine Schriftstellerin aus den geschundenen Gefilden des mit Selbstvergessenheit gepaarten Vergessens nimmt letzteres nicht hin, vielmehr nimmt sie die Gefilde und ihre Geschöpfe in ihren so teilnehmenden wie „unverwandten“ Blick. Sie hat jene als Kind verlassen und wendet sich ihnen als Erwachsene mit östlich geprägtem Gespür und westlich zu kritischer Reflexion geweitetem Blick zu. Um und an treibt sie wie ihren Lev „ein sorgend-sehnendes Gefühl“ (S. 10), und so treuherzig die Formulierung klingt, so paradox streng ist die „Zuwendung“ (S. 20) der Erzählerin. Und so steht nun da zu lesen: Es war, und es war nicht, dieses Siebenbürgen, es war so, und es war nicht so.
Dass Iris Wolff den Mut und die gestalterische Kraft aufbringt, weniger aus eigener Erfahrung zu erzählen als dichterisch zu er-finden und nachzuempfinden, mag manch einem – nicht nur Siebenbürger – vermessen erscheinen. Das Recht dazu aber erarbeitet sie sich, von Neun bis Eins, mit gemessener Beharrlichkeit. Bilder aus einem rumänischen Bauernhaus korrespondieren mit urbanen Straßenszenen in Zürich, das Porträt der Großmutter Bunica mit den Charakterstudien der Mutter Lis und der durch Europa streunenden Künstlerin Kato, Überbleibsel habsburgischer Bäderkultur mit sozialistisch diktierter Tristesse und Unterdrückung, urtümliche Naturerfahrung mit dem Schrecken von Tschernobyl – alles war so, und es war nicht so. Nicht nur liegt die Plausibilität im Auge des lesenden Betrachters, ihm überlässt Iris Wolff auch die lohnende Mühe der Erkenntnis, wie leicht abendländische Selbstgewissheit in Beschränkung mündet.
Bereiche, in denen der Realsozialismus unverhohlen rabiat in das Leben des Einzelnen eingegriffen hat, der balkanisch dilettantische Terror des Geheimdienstes und die Knochenmühle des Militärdienstes, sind ebenso wie die wirtschaftlichen Grau- bis Schwarzzonen vor und nach der „Wende“ zwar Gegenstand der Schilderung, zum Thema aber können sie der deutschen Schriftstellerin nicht eigentlich geraten. Hier verschwimmen die Konturen in der sonst ebenso sanft wie dezidiert zupackenden Darstellung – allerdings nicht zu Lasten realistischer Qualität, sondern gewissermaßen „naturgemäß“. Denn wie das war und nicht war, ist selbst dem, der es erlebt hat, nur mehr eine allerhöchstens diffuse Erinnerung. „Sozialismus“? Das war eine Veranstaltung, die nicht nur der Wahrheit Hohn grinste, sondern gar die Wirklichkeit pulverisierte. Man brauchte also nicht an ihr zu verzweifeln, solange man an ihr zweifeln konnte, wie man ja auch tröstlich vom „Ritt über den Bodensee“ erzählen kann.
Tröstlich, das hat bei Iris Wolff nichts schönrednerisch Begütigendes, je weniger Worte sie macht, desto schwerer wiegen sie und desto mehr öffnet sich der oben angesprochene Raum. Am Ende der „Lichtungen“ steht Levs Abschied von seinem Vater, wir wissen, es ist ein Abschied für immer. Der Junge hält dessen Hand, und der spricht ihn an, zum letzten Mal, mit den letzten Worten des Buches, die auch die ersten sein könnten: „‚Du kannst jetzt loslassen‘“. (S. 250) Erste Worte für viele Bücher.
Von Georg Aescht
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