Eine Art Entwicklungsroman | Terézia Mora: Muna oder Die Hälfte des Lebens | Besprechung
von IKGS München
Der neue Roman Terézia Moras führt uns in die Höllentiefen einer destruktiv abhängigen Liebe zwischen Muna Appelius, einer Schülerin vor dem Abitur, und einem Fotografen und Französischlehrer namens Magnus Otto. Die Geschichte könnte auch als Entwicklungsroman gelten, obwohl es hier nicht um eine geradlinige Entwicklung geht, sondern um durch zahlreiche Höhen und Tiefen gezeichnete, erlittene Lebenserfahrungen, die Muna zwischen ihrem 18. und 40. Geburtstag sammelt.
27. Februar 2025Terézia Mora: Muna oder Die Hälfte des Lebens. Roman. Die weibliche Variante. München: Luchterhand 2023. 441 S.
Wir lernen Muna als temperamentvolle, hübsche, junge Frau kennen, deren Mutter, eine alkoholkranke Schauspielerin, kurz vor Munas Abitur einen Selbstmordversuch verübt. Die Einblicke in das Leben der ostdeutschen Familie kurz vor der Wende 1989 zeigen uns Armut, den frühen Tod von Munas Vater und das Fehlen zuverlässiger Erwachsener, die sich um das Kind hätten kümmern können. Das Mittagessen kocht an den Sonntagen eine Nachbarin, während sich die Eltern in ihr Schlafzimmer zurückziehen. Die Spuren der Parentifizierung in Munas Beziehungen können wir auf den folgenden Seiten bei ihren enormen Schwierigkeiten, ein eigenständiges, selbstbestimmtes Leben zu führen, beobachten.
Sie bereitet sich allein aufs Abitur vor, während ihre Mutter sich nach dem Selbstmordversuch monatelang in einer Kur erholt. Muna macht trotzdem einen sehr guten Abschluss und nennt diese drei Monate eine sehr schöne Zeit, in der sie sich nur um sich zu kümmern brauchte. Die Abiturfeier findet mit ihren zwei Ersatzvätern aus einer Zeitungsredaktion statt, in der sie ein Praktikum macht. Hier lernt sie den Fotografen und Französischlehrer Magnus Otto kennen und lieben. Sie verbringen eine Nacht zusammen, bevor der Fotograf am nächsten Tag auf eine Reise nach Rumänien und Bulgarien aufbricht mit dem Ziel, nach drei Wochen zurückzukehren. Die Wende und die Öffnung der Grenzen kommen aber dazwischen und der Fotograf ändert spontan seine Pläne, ohne Muna irgendein Lebenszeichen zu geben. Sie startet eine Art Schattenleben im permanenten Wartezustand.
Studium der deutschen und englischen Philologie in Berlin, Wohnheimalltag, Partys, es wird schnell klar, dass Muna mit den gleichaltrigen jungen Männern wenig anfangen kann, sie sind zu ahnungslos, „Zu hell. Ja, irgendwie […] beige“ (S. 89), wie sie sagt, stattdessen stolpert sie in eine Affäre mit einem Englischlektor aus Glasgow. Am Anfang steht eine klare Grenzüberschreitung des Dozenten, ihre sexuellen Vorlieben gehen auch auseinander, aber sie schließen tragbare Kompromisse und mit dem Verhältnis erpresst Muna den Dozenten, ihr die Bestnote für ihre Seminararbeit zu geben, bevor er nach Schottland zurückkehrt. Weitere Stationen bringen sie im Rahmen eines Stipendiums nach London, wo sie sich als Babysitter so tief in das Familienleben eines jungen Künstlerpaares hineinziehen lässt, dass sie am Ende kaum studiert und teilweise fünf Nächte in der Woche auf die beiden Kleinkinder aufpasst. Milla, eine Schauspielerin, und Frederic, ein Drehbuchautor, erinnern sie an ihre eigenen Eltern, stellen jedoch eine reichere, freiere, schönere, gesündere Variante dar; dass es sie selbst auch in einer solchen Variante geben könnte, schließt Muna aber von vornherein aus.
Das Magisterstudium beginnt sie in Wien. Die gleichaltrigen Jungs ziehen erneut den Kürzeren, Muna kann nur ironisch reagieren, als sie ein „Ferdinand von“ anspricht, „Ob ich beim Treiben von Schalen- und Niederwild mitmachen wolle“. (S. 149) Ein beliebter Professor entdeckt eine originelle Stimme in ihren Arbeiten und ermutigt sie bei einem Forschungsprojekt mitzuwirken, das – wie sich später herausstellt – Ingrid, eine Post-Doc-Stipendiatin, leitet, die Geliebte des Professors. Muna baut eine gute Beziehung zu Ingrid und weiteren Kollegen auf, sie schließt erfolgreich ihre Magisterarbeit ab und erhält die Möglichkeit, bei dem beliebten Professor zu promovieren. Auslandsaufenthalte, Studienabschluss, Promotion – ihr Leben scheint formal in den richtigen Bahnen voranzukommen.
Doch zufällig entdeckt sie im Publikum bei einem Theaterbesuch in Berlin sieben Jahre nach ihrer ersten Begegnung Magnus. In der Pause reden sie kurz und da er einen Platten in seinem Vorderrad hat und sich nicht dagegen wehrt, dass Muna ihn zu Fuß nach Hause begleitet, landen sie bei ihm. In diesem zehnten Kapitel fängt der Roman gewissermaßen neu an.
Muna erzählt Ingrid, dass bisher eine Verbindung, irgendeine Kontaktstelle gefehlt hätte, erst jetzt, da sie Magnus wiedergefunden habe, wisse sie, dass das Leben, das sie lebt, wirklich ihr Leben sei. Als sie versucht, Magnus von ihren Gefühlen zu erzählen, meint er, nach mehreren Gläsern Wein ein wenig lallend, dass sie sich in nichts hineinsteigern solle. Es gebe nur das Begehren, das zuverlässig funktionieren würde, der Rest wie romantische Liebe usw. sei orts- und zeitabhängig, quasi Mode.
Und das wird für Muna zu einem Rettungsanker, in kritischen Situationen scheint die Sexualität der einzige Kommunikationsweg zu sein, der zwischen den beiden noch funktioniert. Obwohl auch der Sex, wenn Magnus sie anfasst, mit der Zeit immer schmerzhafter für Muna wird. Sie will den Schmerz nicht, aber sie will ihn, den Mann, und der Gedanke, dass er ohne diesen Schmerz nicht zu haben sei, wirft einen dunklen Schatten auf ihre Beziehung.
Muna ist eine „geschickte Hochstaplerin“ (S. 50), in Gesprächen stellt sie mit Leichtigkeit Verknüpfungen zu den Erfahrungen aus dem Schauspielerleben ihrer Mutter her und kann diese fast als ihre eigenen ausgeben, auch in Anwesenheit von Botschaftern und Professoren, und als junge, hübsche Frau wird sie wahrgenommen. Man sollte schließlich einsetzen, was man hat. Magnus erträgt diese falsch errungenen Triumphe in der Öffentlichkeit kaum, große Menschenansammlungen stressen ihn ohnehin, aber auch in Situationen, in denen sich Muna entschieden zum Beispiel gegen die sexistische Bemerkung eines betrunkenen Professors wehrt, ist Magnus die Peinlichkeit der öffentlichen Auseinandersetzung so zuwider, dass er ihr gegenüber gewalttätig wird. Ein schmerzhafter Automatismus schaltet sich ein: Sie fühlt sich allein gelassen, er fühlt sich durch sie bloßgestellt, er schlägt sie, sie fühlt sich schuldig, dass sie ihn dazu provoziert habe, sie haben Versöhnungssex, sie hofft, dass damit die Harmonie wiederhergestellt sei. Für die Zukunft nimmt sie sich vor, noch weniger Anlass dazu zu geben, aufzufallen, obwohl diese Situationen für sie sehr unberechenbar bleiben, sie hat den Eindruck, ständig Regeln zu verletzen, die sie nicht einmal kennt.
Die Höhen und Tiefen des Liebeswahns von Muna werden mit einem unglaublich reichen Personenkarussell garniert, das Terézia Mora mit zahlreichen zeitgenössischen Typen bestückt: der schwule Zahnarzt aus Rumänien, der mit seinem japanischen Freund eine Leihmutter sucht, die lesbische afrodeutsche Historikerin, die ein Pflegekind in ihre WG mitbringen will, der bipolare Wiener Kohlenlieferant mit Schreibambitionen und andere.
Man fragt sich, ob das nicht ein wenig zu bunt geraten ist und nicht zu offensichtlich, wie die Autorin die Lehrstationen für Muna gestaltet. Die wenigsten Figuren tauchen nämlich noch einmal im Roman auf, mit den meisten gerät Muna nur kurz in Kontakt. Ähnlich, wie sie die Schubladen in Magnus’ Wohnung eine nach der anderen aufmacht, um mehr über ihren verschlossenen und verklemmten Freund zu erfahren, lässt Mora ihre Titelheldin in einem Kapitel nach dem anderen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen in Kontakt treten.
Die Beschäftigung mit Texten ist ein Motiv, das sich durch den ganzen Roman zieht: Muna macht noch als Schülerin ein Praktikum in der Redaktion einer Zeitung, recherchiert später für unterschiedliche universitäre Projekte, um sich finanziell über Wasser zu halten. Sie arbeitet mehrmals als Schwangerschaftsvertretung in kleinen Verlagen, entweder in der Presseabteilung oder sie kämpft dafür, auch Manuskripte lesen zu können. Mit ihrer eigenen Dissertation, deren Thema gewissermaßen Ingrid für sie ausgesucht hat, ringt sie sehr lange. Am Ende jedoch schließt sie nicht nur die Doktorarbeit mit summa cum laude ab, sondern schreibt auch einen Band mit Kurzgeschichten, in denen sie ihre zahlreichen Erfahrungen verarbeitet und ihre eigene Stimme findet.
Unglaublich facettenreich werden die inneren Monologe von Muna gestaltet. Briefe, die sie entwirft, dann aber doch nicht abschickt, werden durchgestrichen abgedruckt; was Muna bei Dialogen als empörte, innerliche Spontanreaktion denkt, aber nicht ausspricht, ist in Klammern angeführt. Eine der schmerzhaftesten Stellen des Romans erzählt davon, dass Muna nach einer alltäglichen Auseinandersetzung Magnus in sein Zimmer folgt, nachdem er sich dorthin zurückgezogen und die Türe zugemacht hatte. Magnus bittet sie die Türe wieder von außen zu schließen, woraufhin Muna die Kontrolle verliert. Diese Episode wird mit erschreckend verständnisvoller Distanziertheit detailliert geschildert, als wäre Muna dazu bereit, die selbst erfahrene Gewalt jemandem genauso anzutun: „Ich gebe zu, dass ich anfing, wie am Spieß zu schreien. Wenn jemand das mit mir gemacht hätte, hätte ich denjenigen wahrscheinlich auch von meiner Schwelle gestoßen und die Tür vor ihm zugeknallt. Und hätte derjenige nicht genug Körperkontrolle gehabt und wäre hingefallen und hätte dann auf dem Boden sitzend, schäumend gegen die Tür getreten, hätte ich dann auch die Tür aufgemacht und hätte demjenigen mit einem Gürtel eins übergebraten, damit er durch den Schock wenigstens für einen Augenblick mit der Toberei aufhört und hört, wenn ich ihm ins Gesicht zische, dass ich ihn, wenn er sich nicht benehme, so was von auf die Straße setzen werde, dort, in der Gosse, könne er diesen Zirkus meinetwegen veranstalten, aber nicht hier!“. (S. 332f.)
Eine beeindruckende Geschichte einer Frau aus dem akademischen (Nomaden-)Milieu, die – aus armen Verhältnissen kommend – in der Nachwendezeit ihren Weg sucht und durch ihren Liebeswahn in seelische und körperliche Extremsituationen gerät. Wie man Moras Tage- und Arbeitsbuch Fleckenverlauf von 2021 entnehmen kann, haben wir es hier mit dem Anfang einer „Trilogie der Frauen“ zu tun. Man darf auf die Fortsetzung gespannt sein. Eine unbedingte Leseempfehlung!
Krisztina Busa