Erhöhte Reichweite | Ján Rozner: Seven Days to the Funeral | Besprechung
von IKGS München
Nun verlässt ein beachtenswertes literarisches Werk den relativ kleinen tschechisch-slowakischen Sprachraum, dessen jüngere Geschichte es implizit auch behandelt. Leider erreicht es nicht direkt unsere deutschsprachige Sphäre, die bereits weiträumiger als der ursprüngliche Sprachraum wäre und die auch Bezug zum Autor bedeutete. Aber, und dies ist ein großer Trost, es betritt die Weltbühne des Englischen, das uns ja geläufig wurde ‒ und zwar des britischen Englisch, womit es seine europäische Heimat nicht verleugnet. Es wurde weltläufig und kann auf dem gesamten Globus gelesen werden.
18. Oktober 2024Ján Rozner: Seven Days to the Funeral. Translated by Julia and Peter Sherwood. Afterword by Ivana Taranenková. Prag: Karolinum Press 2024. 488 S.
Den Bogen und diese Perspektive aufzumachen, wäre gewiss im Sinn des Autors. Er zweifelte nicht nur an sich selbst, sondern auch an seinem Herkunftsland, und wollte gern darüber hinauswachsen, was ihm letztendlich vortrefflich glückte. Die Tschechoslowakei tat sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit Mehrfachidentitäten enorm schwer, obwohl diese zuvor die Stärke des ostmitteleuropäischen Raums ausmachten.
Ján Rozner, später dann auch offiziell Hans Rosner, hätte sein opus magnum vielleicht nie fertiggestellt. Er schrieb Jahrzehnte daran, immer vom eigenen Anspruch angetrieben und sich selbst als ungenügend empfindend. Sein plötzlicher Tod 2006 in der Münchner Gartenstraße befreite ihn schließlich auch von der Qual um die Entscheidung für die endgültige Fassung seines Textes, der in verschiedenen Versionen vorlag. Die Herausforderung nahm dann seine Witwe Sláva Rosner in bewundernswerter Weise an. Sie fand auch einen Verleger in Pressburg (slk. Bratislava), der schließlich noch zwei weitere, kleinere Erinnerungsbücher dieses bis dahin auch in der Slowakei (wieder) völlig unbekannten Autors edierte. Denn 2009 waren die Sedem dní do pohrebu [Sieben Tage bis zum Begräbnis] wie eine wahre Bombe im Literaturgeschehen eingeschlagen! Mit so viel Anerkennung war schon lange kein Werk von diversen Seiten bedacht worden, es war von „reifem“ Schreiben die Rede. Und solche Stimmen ertönten selbst aus dem fernen Prag, das sich nicht so leicht vom ehemaligen slowakischen „Brudervolk“ beeindrucken lässt. Rozner war als Autor triumphierend angekommen, auch wenn er selbst leider bereits gegangen war.
2014 erschien die tschechische Übersetzung, die noch der Weggefährte Milan Schulz aus dunklen Normalisierungszeiten besorgt hatte. Und nun, wiederum aus Prag, kommt die englische Version: Seven Days to the Funeral. Karolinum Press nimmt sich der bewundernswerten Aufgabe an, 100 Slovak Classics in sorgfältigen Editionen auf den Markt zu bringen ‒ als ob es immer noch einen gemeinsamen Staat der Tschechen und Slowaken gäbe.
Den Ausgangspunkt für das autobiografische Buch bildet der Tod der ersten Ehefrau Rozners, Zora Jesenská. Das emotional aufwühlende Ereignis setzte später ein Erzählen in Gang, in dem der Autor in erster Linie sich selbst Rechenschaft ablegt über sein bisheriges Leben. Rozner wählt für seine Darstellung die scheinbar objektivierende dritte grammatische Person, kommt uns mit seinen Schilderungen aber existentiell nahe. Das Werk ist schlicht in die sieben Tage gegliedert, die auf das Versterben bis zur Beerdigung folgen. Dramatik und Sog entfaltet es nicht nur durch gewisse Zumutungen, denen der Witwer ausgesetzt wird, es geschieht durch die Verknüpfung alltäglicher Handlungen mit spontanen oder immer wieder auftauchenden Gedanken sowie schonungslos offengelegten Gefühlen und Bewertungen.
Der 1922 in Bratislava geborene Rozner entstammte einer Familienkonstellation, wie sie für diese geografischen Breiten durchaus gängig ist: Der Vater war ein aus Böhmen zugewanderter Jude, die Mutter kam deutschsprachig aus dem Sudentenland; es war für Rozner selbstverständlich, in ihrer Sprache mit ihr zu reden. Nach dem Abitur 1940 bereitete ihm der jüdische Hintergrund wegen den auch in der Slowakei geltenden Rassegesetzen des Slowakischen Staats Schwierigkeiten mit dem Studium. Als Krieg und dieses erste autoritäre Regime seines Lebens vorüber waren, betätigte sich Rozner als Kulturredakteur bei namhaften Zeitungen, arbeitete für Verlage und dann auch als Dramaturg am Nationaltheater. Ab den 1960er-Jahren widmete er sich dem Übersetzen aus dem Deutschen und Englischen, auch zusammen mit seiner Frau Zora Jesenská. Sie war eine bedeutende Mittlerin russischer Literatur und hatte unter anderem damit große Medienaufmerksamkeit erregt, dass ihre Übertragung von Pasternaks Doktor Schiwago halblegal an der bestehenden Zensur vorbei herauskam. In der Sowjetunion sowie im gesamten sogenannten Ostblock durfte das Buch nicht erscheinen, war aber heimlich in den Westen gelangt. Das Ehepaar gehörte inzwischen zur kulturellen Elite der Slowakei und als es sich nach den Ereignissen vom August 1968, der brutalen Niederwerfung des Prager Frühlings, gegen das Regime stellte, schlug dieses erbarmungslos zurück. (Eindrücklich ist ein dieser Buchausgabe beigegebener Brief Jesenskás vom April 1969, in dem sie während einer Demo an sich verübte polizeiliche Gewalt beschreibt, die allerdings nicht sie persönlich meinte.)
Nicht nur, dass beide keine Publikationsforen mehr erhielten, ihre Namen wurden sogar von Katalogkarten entfernt, um nur eine der abstrusen Maßnahmen der Staatsmacht konkret zu benennen. Während die 13 Jahre ältere Ehefrau sich mit dem erzwungenen Rückzug aus öffentlichem Wirken abzufinden wusste, bedeutete es für den Endvierziger Rozner einen herben Einschnitt in der produktivsten Phase seines Lebens. Sein ohnehin labiles Selbstwertgefühl wurde zusätzlich harten Prüfungen ausgesetzt. In dieser prekären Situation stirbt ihm kurz vor Weihnachten 1972 der liebste Mensch.
Der unersetzliche Verlust wird also zu einem Auslöser, um zugleich Zeugnis von unwürdigen Daseinsumständen abzulegen. Es gelingt fulminant. Rozner tastet sich an die schwierigen und schmerzlichen Facetten seines Lebens sowie dem vieler Mitmenschen über banale tägliche Erledigungen heran, die für die Organisation des Begräbnisses nötig sind. Er entschließt sich, eine Totenmaske seiner prominenten Ehefrau – sie entstammte einem gesetzten bürgerlichen slowakisch-nationalen Milieu – anfertigen zu lassen und muss dazu zwei Modelleure herbeibringen und treffen. Weiters besteht eine äußerst heikle Aufgabe darin, für die Geächtete einen würdigen Totenredner zu finden, ohne diesem selbst wieder zu schaden. Rozner beschreibt seine Tagesabläufe minutiös, aber nie langatmig, und seine eingeflochtenen Reflexionen betreffen das offene Eingeständnis seiner Alkoholsucht ebenso wie seine Versuche der Bekämpfung. Erinnerungen an die Verstorbene bis hin zum ersten Kuss tauchen liebe- und respektvoll auf. Und dann geht es natürlich um das Netz der Freunde und Bekannten, das in der Zeit der sogenannten Normalisierung ‒ also der vom Regime durchgesetzten Rückkehr zur kommunistischen Ordnung ‒ so eminent wichtig wurde fürs seelisch-geistige Überleben.
Vor unseren Augen erleben wir nahezu alle inzwischen namhaften Akteure der Dissidentenszene der 1970er-Jahre, neben den Schriftstellerkollegen Ladislav Mňačko und Peter Karvaš sind es Kritiker wie Jozef Bžoch und Agneša Kalinova. Zum einen beschreibt der Autor persönliche Treffen, um zum Beispiel über den Text der Trauerkarte zu beraten, zum anderen referiert er aus deren Biografien. Diese verborgene reiche Welt der gesellschaftlichen Opposition ist heute stark verblasst. Deshalb ist das „Who is who“ in der englischen Ausgabe besonders wertvoll, und dies nicht nur für ausländische Leserinnen und Leser. Die Übersetzerin Julia Sherwood deckt Kürzel auf und spannt Fäden zwischen den historischen Protagonisten dieses Umfelds. Sie komplettiert für uns das Bild der düsteren Epoche, die jedoch aufgrund eines funktionierenden Beziehungsgeflechts Halt bot.
Den spannungsvollen Höhepunkt des Buchs bildet schließlich das Begräbnis Zora Jesenskás in ihrer Heimatstadt Martin. Als ehrenwerter Redner konnte der verdiente Hochschulprofessor Jozef Felix gewonnen werden, die Totenrede auf die Staatsfeindin zu halten. Und die Staatssicherheit entblößte sich nicht, aus einem letzten, der Pietät zugedachten Akt eine „tragikomische Farce mit verheerenden Folgen für alle aktiv Beteiligten“ (S. 469) zu gestalten, wie es auf Englisch Ivana Taranenková in ihrem aufschlussreichen Nachwort ausdrückt.
Schlussendlich gelang es den inhumanen totalitären Strukturen nicht, Menschen wie Rozner oder Jesenská aus dem Gedächtnis ihrer Nation zu tilgen, wie es mit Karteieinträgen möglich ist. Auch dank engagierten Einsatzes wie jenem von Julia Sherwood, in ergänzender Perfektionierung durch ihren Mann Peter, kann die Erinnerung an menschlichen Mut zu geistiger Unabhängigkeit über die engen Grenzen seines ursprünglichen Wirkens hinausgetragen werden. Zusätzlich zum erwähnten Namensverzeichnis und hilfreichen Anmerkungen zeitgenössischer Realien verfasste die Übersetzerin auf Wunsch des Verlegers A Personal Translator’s Note, was ihr zu Recht eine persönliche Stimme zugesteht. Sie ist die Tochter der oben bereits erwähnten Agneša Kalinová und von Ján L. Kalina. Ihre Eltern mussten als politische Gegner in den 1970er-Jahren staatliche Verfolgungsmaßnahmen durchstehen, die sogar zu Gefängnisstrafen führten. Sherwood war dadurch nicht nur selbst betroffen in ihrem Lebensweg, der Fall wurde sogar verfilmt und nun auch in wissenschaftlicher Analyse gewürdigt ‒ womit er ein Exempel für die von Rozner beschriebenen Verhältnisse liefert, abgesehen davon, dass man sich dann gemeinsam im Exil wiederfand und die Freundschaft weiterpflegte. Die Rosners lebten wie die Kalinas in München-Schwabing, ihre Namen als verdiente Literaten fehlen jedoch noch auf der entsprechenden Hinweistafel des Nordfriedhofs.
Von Renata Sako Hoess