,,Ich lasse meine Heimatlosigkeit nicht im Stich“ | László Végel: Unsere unbegrabene Vergangenheit | Besprechung
von IKGS München
Heldentum und Stolz sind kein Maßstab für Angehörige von ethnischen Minderheiten – egal, aus welchem Landstrich sie stammen. In den meisten Fällen ist ihnen ihr nacktes Überleben mehr wert als sämtliche bestirnte Himmel über und moralische Gesetze in ihnen. Als nach dem Ersten Weltkrieg die Donaumonarchie zerfällt, wachen die ethnischen Minderheiten aus der Vojvodina in einem anderen staatlichen Gebilde auf und müssen sich neuen Machtkonstellationen anpassen. Pragmatismus gilt es an den Tag zu legen, nicht Heroismus. Dem Autor László Végel ist diese Region am Rande Europas und der dort lebende einfache Mensch ans Herz gewachsen.
9. Mai 2025László Végel: Unsere unbegrabene Vergangenheit. Aus dem Ungarischen übersetzt von Christina Kunze. Klagenfurt: Wieser Verlag 2024. 380 S.
In seinen Büchern widmet er sich seit jeher den „Ärmsten unter den Armen“ (S. 27) und beobachtet, wie historisch markante Ereignisse ihr Leben beeinflussen, wie die große Geschichte über ihre Köpfe hinwegfegt und immer wieder ihren Alltag zerstört. Wunden, die nicht heilen wollen, tragen diese Menschen mit Würde, denn sie wissen, dass es kein Rezept gibt, das sie von den erlittenen Traumata erlöst. Sie „weinen nach drinnen, sie sind schamhaft“ (S. 48), denn: „Niemand versteht das Drama ihres Herzens“. (S. 46) Trotzdem geschieht es in manch feierlicher Stunde, dass der Schmerz hervorbricht und die alten Wunden wieder anfangen zu bluten. Aber auch damit finden sie sich ab, denn die Vergangenheit, um die sie trauern, verbindet sie. Ein pathetisch daherkommender Politiker aus Budapest, der in der neu herangebrochenen Ära von Freiheit und Demokratie wortgewaltig und kämpferisch verspricht, sich der „Angelegenheiten der leidenden ungarischen Minderheiten“ (S. 44) anzunehmen, wird mit seiner nationalistischen Gesinnung und seinen „großen Gesten“ (S. 45) die Menschen aus diesem Landstrich nicht erreichen. Sie werden ihm nicht zujubeln – und ziehen es vor, still mit ihren Wunden weiterzuleben.
László Végels Romanprotagonisten ist bewusst, dass sie nur dieses eine Leben haben – und sie würden es gerne friedvoll und genügsam leben, wenn man sie ließe. Doch geraten sie alle ins Mahlwerk der Geschichte, das kein Erbarmen kennt. Das gilt für die in den zuletzt erschienenen Romanen Neoplanta und Balkanschönheit vorgestellten Menschen, aber auch für die Personen des vor kurzem erschienenen autobiografischen Romans Unsere unbegrabene Vergangenheit, in dem Végel seiner eigenen Familiengeschichte nachgeht. Weit und breit sind „keine Helden“ (S. 32) in Sicht. Doch gerade dieses Antiheldentum, das der Ich-Erzähler in seiner Nachbarschaft und Verwandtschaft beobachtet, ist das, „was ich an ihnen besonders schätze“. (S. 32) Als nach dem Friedenschluss von Trianon die „abgetrennten Ungarn“ (S. 32), zu denen die Familie des Ich-Erzählers gehört, in einem neuen Staat aufwachen, wollen sie nichts anderes, als ihre Haut retten. Ein Zurück gibt es nicht mehr, deshalb spüren sie instinktiv: Nostalgie ist völlig fehl am Platz, für Trauerprozesse gibt es keine Zeit, patriotische Gefühle Ungarn, dem „Mutterland“ (S. 21), gegenüber erweisen sich als absurd und sinnlos, weil existenzgefährdend. In einer Welt, die in Unordnung geraten ist, gibt es nur Brüche, mit der die Generation der Großväter fertig werden muss. Es herrscht „Stille“ (S. 32): Die Menschen „waren aus einem Leben in ein anderes getreten, hatten alles neu lernen müssen, sollten die Nachbarn anders grüßen, sich auf den Ämtern anders verhalten, sich vor anderen Herren verbeugen. Im Leben ihrer Kinder, also unserer Väter, war dieser Bruch nicht mehr so schmerzhaft zu spüren. Sie wurden schon in eine Welt geboren, in der sie in der Schule von König Aleksandar und dann von König Peter lernten, ihre Kinder wiederum wurden schon im Sozialismus sozialisiert und erlebten Trianon höchsten als museale Erinnerung […]. Von was für einer Tradition kann man denn ohne kontinuierliche Geschichte sprechen?“ (S. 32)
Jahrzehnte später, als sich der 1941 geborene Ich-Erzähler auf die Suche nach seinem Geburtshaus begibt, muss er feststellen, dass er wie die Großväter-Generation nach Trianon „zur Zukunft verurteilt“ (S. 22) und ein Abgehängter ist: „Ich war der Dumme der Zukunft“. (S. 22) Die Maulbeerbäume, die in der Kindheit des Autors die Straßen seines Heimatdorfes Szenttamás (serb. Srbobran, dt. Thomasberg) in der Vojvodina säumten, sind durch Kiefern ersetzt. Es sieht alles ganz anders aus, das Haus seiner Familie ist nicht auffindbar. Die Suche gibt er schnell auf, aber die Frage der Zugehörigkeit – „wo ist […] mein Platz?“ (S. 14) – lässt ihn nicht los. Als einer, der „die Wurzeln seiner Heimatlosigkeit hin- und herzutragen“ (S. 14) gezwungen ist, beantwortet er die Frage nach der Verortung seiner Existenz mit einer Geschichte über seine „Familie, die keine ordentliche Familiengeschichte hatte“. (S. 26)
Die Geschichte ist „eine versunkene Familiengeschichte, in der höchstens das eine oder andere spätere Detail aufleuchtet.
Ich weiß nicht, welcher meiner Vorfahren als erster ungarische statt deutscher Volksmärchen gehört hat, wann wer angefangen hat, auf Ungarisch zu fluchen, wann sie begannen, ungarisch zu fühlen“. (S. 71) Was festzustehen scheint, ist, dass die Vorfahren des Großvaters väterlicherseits Deutsche waren. Ein Teil der Familie hält an der Schreibweise „Wegel“ (S. 70) fest. Der Großvater, geboren 1882 in Mélykút, entscheidet sich, „als die Monarchie zusammenbrach und das Städtchen in den serbischen Staat hineintaumelte“ (S. 70), anders: Er übersiedelt nach Szenttamás und heißt fortan János Végel: „In Mélykút war er Deutscher unter Ungarn, in Szenttamás wurde er Ungar unter Serben“. (S. 68) Er lernt Serbisch und passt sich „an die neu entstandene Lage“ (S. 70) an.
Aus Angst werden aus den Deutschen Ungarn und später Serben. Im vergangenen Jahrhundert geht das „Gespenst der Angst“ (S. 76) um. Das „Drama des Identitätswechsels“ (S. 76) und die damit einhergehenden psychischen Folgen werden verheimlicht. Auch der Ich-Erzähler als Nachfahre von Generationen, die die „willkürlichen Wendungen der Geschichte hier- und dorthin geschoben“ (S. 72) hat, bekennt sich zu einem „Bastard des Nationalstaats“ (S. 77) und fühlt sich bis in die Jetztzeit hinein wie „ein frei umherstreifender Kentaur“ (S. 77), „für den man im europäischen Tierpark noch nicht den richtigen Käfig gefunden hat“ (S. 77): Aus „Budapester Predigten“ (S. 77) leitet er ab, dass er „kein reiner Ungar sein kann“ (S. 77), aber er weiß, dass er auch niemals ein „in Budapest lebender, ausgestopfter Paradebastard“ (S. 77) mit künstlich aufgeblähtem Nationalstolz sein will.
So wie der Großvater 1918 und der Vater 1944, nach dem Abzug der Ungarn aus der Vojvodina, entscheidet auch der Ich-Erzähler, die gebeutelte Region nicht zu verlassen. Für alle heißt es, neu anzufangen. Der Großvater kauft sich nach dem Ersten Weltkrieg ein Pferd und arbeitet „als Fuhrmann, pflügte, säte und erntete, er lieferte den serbischen Beamten Kohle und Feuerholz“. (S. 83) Ab 1936 arbeiten Großvater und Vater an der Errichtung des Banovina-Palastes. Jahrelang transportieren die beiden Männer Material für den „Gebäuderiesen“ (S. 87), der später zum „Sitz der Provinzregierung“ (S. 88) erklärt wird. Die finanzielle Situation der Familie verbessert sich. Später, als László, der Sohn, 1956 aufs Gymnasium in Újvidék (serb. Novi Sad, dt. Neusatz, lat. Neoplanta) wechseln soll, erklärt der Vater dem Sohn – „den habe ich gebaut“. (S. 85) Den Palast sieht der Vater von innen nie und der Sohn geht „ängstlich an ihm vorbei“ (S. 85) – er ist in der Zwischenzeit Sitz der kommunistischen Funktionäre geworden und wird streng bewacht.
Wenn sich etwas vererbt, so ist es die Angst: Die Zeiten wandeln sich, aber egal, ob Kommunisten oder Antikommunisten regieren, die Angst bleibt. Im Winter 1992, während in Kroatien der Krieg tobt, die Donau täglich „kroatische Leichen“ (S. 86) ans Ufer spült und sich die serbischen Antikommunisten ebenfalls mit „großen Säuberungen“ (S. 86) positive Effekte erhoffen, verliert der Ich-Erzähler seine Arbeitsstelle als Redakteur. Doch ist das kein Grund, seine Herkunftsregion zu verlassen. Als „heimatloser Lokalpatriot“ (S. 87) wird er zu deren Chronist.
Die Generation der Kinder, die, „Camusʼ Felsen erklimmend, eine hoffnungslose Diskussion“ (S. 8) mit dem Sozialismus führen wollten – in der Hoffnung, die Zukunft des „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ (S. 8) zu verwirklichen –, stürzen nun „wie der Frosch in den Schweinetrog“ (S. 8): „in den Kapitalismus mit unmenschlichem Antlitz“. (S. 8f.)
Als der Eiserne Vorhang „kein Hindernis“ (S. 325) mehr ist, hätte der Ich-Erzähler – wie viele andere – nach Ungarn fliehen können, doch er bleibt. Er will „das Bleiben und die Heimat versöhnen“ (S. 326): „Ich dachte, ich habe in einer Heimat gelebt, deren Name Jugoslawien war, und in einer Sprache, deren Heimat Ungarn ist, habe wohl oder übel den Kompromiss mit mir geschlossen und wollte nicht in Budapest mit meinem Märtyrertum den Helden spielen“. (S. 326) Wie die Generationen vor ihm versucht er als Angehöriger der ungarischen Minderheit in schwierigen Zeiten zu überleben. Auf die Frage, die ihm viele nach Ungarn Heimgekehrte stellen, wann er denn „heimkäme“ (S. 325), hat er eine Antwort parat: „Ich kehre nicht heim. Ich lasse meine Heimatlosigkeit nicht im Stich“. (S. 326) Er zählt sich zu den „verwaisten, halluzierenden Minderheitenbastards […], die in der Heimatlosigkeit sehr wohl eine Heimat finden“. (S. 339) Mit den „Wandernomaden, die immer irgendwo hingehören“ (S. 338), die sich mit ihrem „weiten Horizont“ (S. 338) überall zu Hause fühlen, hat er nichts gemein. Sein Zuhause bleibt ein Flecken Erde namens Vojvodina, wo er tagtäglich die Erfahrung macht, „dass die vergangenheitsberaubte Zukunft ihrem eigenen Gesetz folgt, sie stürmt ohne mich voran, sie braucht mich nicht mehr und – ich brauche sie auch nicht. […] Gegen meinen Willen bin ich zum Bettler und Parasiten der Gegenwart geworden. Jeden Tag sehe ich mich damit konfrontiert: Ich werde in ein Zeitalter des großen Ausverkaufs geschoben“. (S. 348) Seinen Beobachterposten gibt er nicht auf, denn auch die „glorreiche Realityshow der Demokratie“ (S. 349), in der die Bürger meinen, „auf eine glücklichere Zukunft“ (S. 352) zuzusteuern, braucht einen Zeugen, der weiß, „dass diese Geschichte leider nicht hier ihr Ende haben wird“. (S. 352) Als Chronist, der erlebt, „dass meine Freunde und meine Feinde reihenweise ihre Vergangenheit verleugnen“ (S. 348), muss er dieser „schlauen Entrümpelung der persönlichen Lebensgeschichten“ (S. 348) etwas entgegensetzen. Und das ist László Végel mit diesem grandiosen autobiografischen Roman gelungen.
Ingeborg Szöllösi