Jan Koneffke: Im Schatten zweier Sommer. Roman. Berlin: Galiani Verlag 2024. 304 S. 

Über Joseph Roths erste Zeit in Wien als Student der Philosophie und Literaturwissenschaft, kurz bevor der Erste Weltkrieg ausbricht, ist wenig bekannt. Es liegt nahe, dass Koneffke, der von allen Feuilletons als großes Erzähltalent gefeierte Autor, angestachelt durch diese Information, anfängt, sich Treppenhaus-Gespräche mit dem Studenten aus Galizien auszudenken. – Anfangs fühlt sich Joseph Roth in Wien recht fremd. Zu jener Zeit behandeln Zeitgenossen Juden aus Galizien generell mit Herablassung. Doch der talentierte Geschichtenerfinder lässt es sich nicht nehmen, seine Biografie so zu frisieren oder auszuschmücken, wie es die jeweilige Gelegenheit erfordert. Koneffke imaginiert demnach die Begegnung mit einem „stolzen, gehemmten und einsamen jungen Mann im Anfang seiner Entwicklung und gegen Ende einer Epoche“ (S 295f.), für den „der Zusammenbruch der Habsburger Monarchie, die sich im friedlichen Miteinander von Völkern, Kulturen und Sprachen wie das Modell europäischer Einigung ausnimmt, […] ein schmerzhaftes, niemals verwundenes Trauma“ (S. 295f.) bleiben wird. Ziel dieser herbeifantasierten Gespräche ist: einiges über Joseph Roths „Wiener Beginn zu erfahren“. (S. 295f.) 

Als entscheidender Wegweiser entpuppt sich für Koneffke Joseph Roths Satz, die Liebe mache sehend – und mitnichten blind, wie es gemeinhin heiße. Wie ein zweiter Max Frisch alias Gantenbein stellt Koneffke sich vor, dass den jungen Untermieter eine Freundschaft und Liebe mit der ältesten Tochter seiner Vermieter – einer Schuhmacherfamilie – verbunden habe. 

Franziska Paulina Fischler, genannt Fanny, ist 17-jährig, intelligent und schlagfertig. Sie lässt sich zur Lehrerin ausbilden und verbringt viel Ziel bei ihrem Vater in der Werkstatt, wo sie nebenbei auch sein Handwerk erlernt. Später wird sie stolz in einem heftigen Wortwechsel mit ihrem dem Patriarchat noch lange nicht entwachsenen Muniu – das ist Josephs Spitzname – behaupten: „Mich kann man guten Gewissens als Schusterin einstellen, ich habe das Handwerk von Kindesbeinen an erlernt, ich hing meinem Vater am Kittel, bis er es mir beibrachte, es ist absolut nichts, was uns Frauen verschlossen bleibt. Und das ist mit dem Schreiben nicht anders!“. (S. 234) Dass Koneffke in ihr auch eine Autorin sieht, löst er geschickt: Sein Alter Ego, der Ich-Erzähler, findet nach dem Tod seiner 103 Jahre alten Großtante Fanny ein Tagebuch aus dem Jahr 1914 und einige Audio-Kassetten mit Fannys Erinnerungen. Beide Zeitdokumente veröffentlicht er im Anschluss an das einleitende Kapitel, das er mit dem Titel „Tante Fannys verschwiegene Geschichte“ (S. 5) versieht und in dem er in der Funktion des Großneffen die Familie Fischler vorstellt. 

Fannys Vater, Martin, ein aus der Bukowina stammender Mann mit einem großen Herzen, verdient als Schuhmacher das tägliche Brot für die sechsköpfige Familie. Im Hauptberuf jedoch ist er „Sozialdemokrat“ (S. 14) – zu seinem strenggläubigen Vater unterhält er keine Beziehung, dafür fertigt er barfuß laufenden Kindern kostenlos Schuhe an, bietet armen Menschen Schuhe für den halben Preis an und hilft großzügig jedem Notleidenden. Seine Neigung veranlasst seine Ehefrau Josefin immer wieder zu der Klage: „Du bringst uns alle ins Elend!“. (S. 14) Muniu wird sie gegenüber Fanny anlässlich ihrer Wiederbegegnung in Paris verteidigen – ihre Mutter sei im Recht gewesen, wenn sie gemeint habe, dass der „Zimmerherr“ (S. 26) eine viel zu niedrige Miete von ihrem Mann veranschlagt bekommen habe: „Hausfrauen haben keine Buchhalterseelen. Sie denken in Kilo und Gramm, nicht in Soll oder Haben, in zweihundert Gramm Mehl, einem Kilo Kartoffeln, die der Familie den Hunger vertreiben …“. (S 204) Umgekehrt ist auch er, der anständige, wohlerzogene Student, Fannys Mutter ans Herz gewachsen. Als er auszieht, bedauert sie es sehr. Doch muss Muniu für sich und seine aus Galizien angereiste Mutter, die sich vor dem Heranrücken der russischen Armee rechtzeitig nach Wien absetzt, eine neue Bleibe finden. 

Fanny beschreibt der Ich-Erzähler als Vaterkind – dem Vater verdankt sie es, dass sie mit 17 aufs Lehrerinnenseminar der Ursulinen geht. Der Vater ist es, der sie ermutigt, sich stets weiterzubilden und auf eigenen Beinen zu stehen: „Vater Fischler betonte, Begabung, Charakter und Intelligenz hingen nicht vom Geschlecht ab“. (S. 15) Mit dieser Ansicht ist er selbst Muniu weit überlegen. Denn Letzteren sucht eine unheilbare Krankheit heim, gegen die kein Kraut gewachsen ist: die Eifersucht. Bereits bei seiner ersten Freundin macht sich diese in einem erschreckenden Maß bemerkbar und lässt nichts Gutes ahnen. 

Aus Fanny wird eine selbstständige Frau mit einem Hauptberuf – Lehrerin – und einigen Nebenberufen: Unter einem Pseudonym schreibt sie für die „Arbeiter-Zeitung“ und in ihrem Pariser Exil, wo sie beim Hilfskomitee zufällig wieder auf ihre erste große Liebe, auf Muniu, stößt, hält sie sich mit vielen Gelegenheitsjobs über Wasser, bis sie bei einem aus Berlin geflüchteten Arzt, Maximilian Sasse, landet. Mit ihm wird sie aus dem durch die Nazis bedrohten Paris rechtzeitig in die Vereinigten Staaten flüchten und ihn schließlich heiraten. 

Macht sich Fannys Vater nichts aus religiöser Anbindung, ist für Fannys Mutter die Glaubenszugehörigkeit nicht leicht vom „Kucheltisch“ (S. 39) zu wischen: „Sie lebte in Ehrfurcht vor Jahve“ (S. 15), doch als pragmatischer Mensch lässt sie ihre Kinder katholisch taufen, da sie ihnen „Erniedrigung, Feindseligkeit und Gemeinheit“ (S. 15) ersparen will. Das wird ein Teil der Kinder allerdings später rückgängig machen, als die Familie gezwungen ist, mit Hitlers Amtsantritt Wien zu verlassen und nach Palästina auszuwandern. 

Der Ich-Erzähler, der seine Ferien oft bei seiner Großtante in Wien verbringt und später während seines Studiums sogar bei ihr wohnt, geizt nicht mit guten Eigenschaften, um seine Tante zu beschreiben. Sie ist lebensfroh, charmant, großzügig, immer zur Stelle und unermüdlich im Einsatz, wenn jemand in Not ist oder Hilfe braucht: „Ich vertraute mich Fanny an, wenn wir allein waren, schlechte Schulnoten, Freundschaftsstreit, erste Verliebtheit – sie nahm alles ernst, half mit Rat und Ermutigung“. (S. 9) Doch nicht nur für die Familie tut sie alles, auch für ihre Freunde: Als das Enkelkind ihres Spielgefährten aus der Kindheit an einem Tumor erkrankt, fliegt sie mit ihm nach Israel und kommt nach drei Monaten mit einem gesunden Kind zurück. 

Neben ihrem Lehrerinnenberuf und ihrer journalistischen Tätigkeit ist sie auch schriftstellerisch tätig: Sie ist Autorin eines wegweisenden Sachbuchs über die „vergessenen Winkel“ (S. 9) der Donaumonarchie: Transsilvanien, Galizien, Dalmatien. Ihr Ziel: der Leserschaft die „Landschaften, Menschen, Kulturen, Nationen und Sprachen im Osten als unverzichtbaren Teil von Europa“ (S. 9) nahezubringen. Eine besondere Frau! Und so hebt das ihr gewidmete Buch des Ich-Erzählers mit dem Aufruf „Tante Fanny!“ an – und darin ist alles enthalten: Sympathie, Liebe, Verehrung. 

Dieser mit allen Gaben gesegneten, fast schon zu superlativisch-positiv eingeführten Frau ist es bestimmt, durch die Liebe zu dem etwas verloren wirkenden Studenten Joseph aus Galizien sehend zu werden. In der Anfangszeit ist für ihn Wien „ein fettes und blinkendes Tier in der Mitte des klebrigen Habsburger Netzes von Pilsen bis Kronstadt, von Krakau bis Novi Sad, und alles, was sich aus Dalmatien oder Galizien zappelnd im Spinnengewebe verheddere, mache es sich zur Beute und sauge es aus“. (S. 62) Mit Geschichten betört der junge Student seine Vermieterfamilie, mit seinen scharfen Beobachtungen und klaren Einsichten besticht er Fanny und seine Kommilitonen. Doch wie jeder Geschichtenerfinder, „Batlen“ (S. 65), dem „Geldsachen“ fremd sind, wird auch Muniu zeit seines Lebens in Geldnot sein. 

Als ihn Fanny im Pariser Exil trifft, ist er bereits ein Wrack: „Es war ein hartes Erwachen: Ich liebte einen leidenden Menschen, der trotz seines Alters von erst 43 uralt war, den verfallenen Rest eines Mannes, ja, eine Ruine an Seele und Leib, in der nur noch sein scharfer und witziger Geist umging. Was Joseph von unserem Zimmerherrn trennte, war wesentlich mehr als ein Leben: ein Weltenbrand“. (S. 225) 

Den Weltenbrand überlebt er nicht – er wird im Alter von 44 Jahren am 27. Mai 1939 in Paris an den Folgen seines Alkoholismus sterben. Doch Jan Koneffke lässt es sich als Geschichtenerfinder nicht nehmen, ihn kurz vor seinem Tod eine kurze leidenschaftliche Liebesgeschichte mit seiner Wiener Jugendfreundin erleben zu lassen – leider ist sie fiktiv, doch beneidenswert schön, auch wenn sie wegen Roths attestierter krankhafter Eifersucht scheitern muss. Fakt ist, dass auch Roths echte Ehefrau Friedl Reichler, mit der sich die fiktive Fanny „aufs Engste verbunden“ (S. 271) fühlt, an dem Bollwerk Eifersucht abprallt. Koneffke lässt seinen Joseph alias Muniu reumütig bekennen: „Ja, sie [Friedl] nahm vor mir in die Krankheit Reißaus. Fanny, es ist eine bittre Ironie. Ich bin das Kind eines Mannes, der von einem Tag auf den anderen geistig erkrankte und bis zu seinem Ableben schwachsinnig blieb … und verheiratete mich mit einem zarten, feinnervigen Wesen, das bald in den Irrsinn abgleitet. […] Ich habe das Menschenkind auf dem Gewissen“. (S. 209) Nebst Friedl, von der sich Roth scheiden lässt und die 1940 in der Gaskammer von Hartheim getötet wird, haben auch Roths reale Gefährtinnen Irmgard Keun und Manga Bell ihren kurzen Auftritt. Doch schart Koneffke sie alle um die zentrale Figur: die fiktive Geliebte. Sein Anliegen ist es, eine „unreife Liebe“ (S. 168), die Fanny „als halb selig und unbeschwert, halb als verletzend und bitter“ (S. 168) empfindet, in eine sehende, reife Liebe zu überführen. Ausschlaggebend ist dabei das Heimweh der beiden Liebenden: Heimweh nach dem Hause Habsburg, das „auch noch dem Heimat bot, der heimatlos war“. (S. 267) Doch wird der tief empfindenden Fanny bei ihrer Wiederbegegnung mit ihrer Jugendliebe bewusst, dass es sich bei ihrem Muniu um ein potenziertes Heimweh handelt: das „Heimweh der Seele, die friert und einsam ist“ (S. 283), die auf Erden keine Heimat findet. Zeile um Zeile nähert sich Fanny der existentiellen Verlorenheit des großen Erzählers Joseph Roth. Zum Glück lässt uns ein begnadeter Erzähler unserer Tage daran partizipieren! 

Von Ingeborg Szöllösi

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