Grenzen sind eine komische Sache. Besonders politische Grenzen. Besonders im südöstlichen Europa. Sie ändern sich mit dem Verlauf der Zeit, sie kommen und gehen. Diese Änderungen können großes Leid verursachen, wie es uns die Geschichte der Region zeigt. Sie trennen Städte und Familien voneinander oder sie halten Menschen innerhalb der Staatsgrenzen gefangen. Um neu entstandene Grenzen zu behaupten, greifen Staatsoberhäupter immer wieder zu brachialen Praktiken wie erzwungenen Bevölkerungsaustausch oder Massenvertreibung.

Das Phänomen der Phantomgrenzen in Südosteuropa

Ein Running Gag in Südosteuropa zählt die zahlreichen Staaten auf, in denen jemand gelebt hat – ohne den eigenen Wohnort jemals verlassen zu haben. Dies bezieht sich auf verschiedene Regionen und Städte, vor allem im 20. Jahrhundert. Neidisch blickt man auf Portugal und Spanien, deren gemeinsame Grenze seit dem 13. Jahrhundert weitgehend unverändert geblieben ist.

Die ehemaligen Grenzen in Südosteuropa sind jedoch nicht spurlos verschwunden. Oft bleiben sie durch Traditionen, politische oder kulturelle Orientierung und Sprachverhalten noch lange spürbar. Dieses Phänomen nennt man Phantomgrenzen.

Sprachspuren in Serbien

Die regional unterschiedlich sprachlichen Phantomgrenzen in Serbien sind auf die komplexe Geschichte des Landes zurückzuführen. Die heutige Republik von Serbien besteht aus Regionen, die stufenweise in das 1882 gegründete Königreich Serbien eingegliedert wurden. Andere gehören erst seit dem Ende des Ersten Weltkriegs zu Serbien. Vorher standen sie unter habsburgischer, ungarischer oder osmanischer Herrschaft. Sie alle haben ihre Spuren hinterlassen und die lokalen Traditionen sowie Sprachpraktiken bis heute geprägt.

 

Osmanisches Erbe in Serbien

In Serbien kommen sprachliche Phantomgrenzen besonders stark zum Ausdruck. Der südliche Teil des Landes stand jahrhundertelang unter osmanischer Herrschaft. Dies bedeutet tatsächlich eine – regional zwar abweichende – Zeitspanne von 350 bis 500 Jahren. Serbiens drittgrößte Stadt, Niš gehörte – mit kurzer Unterbrechung – von 1385 bis 1878 zum Osmanischen Reich. Die Stadt Vranje befand sich zwischen 1455 und 1878 in osmanischen Händen. Noch länger dauerte die osmanische Herrschaft in den südlichsten Teilen des heutigen Serbiens. Sie wurden erst infolge der Balkankriege (1912–1913) mit dem Königreich Serbien vereint.

Das Hauptportal der osmanischen Festung in Niš. Quelle: Wikimedia Commons, Autor: MrPanyGoff

Das architektonische Erbe der osmanischen Jahrhunderte im Süden Serbiens ist noch sichtbar durch Festungen, Moscheen, Hamams (Bäder) und typische historische Wohnhäuser. Die Einheimischen bezeichnen diese Ära häufig als „türkisches Joch“ oder „türkische Sklaverei“. Trotz dieser ambivalenten Haltung benutzen sie im Alltag ganz selbstverständlich zahlreiche Türkizismen.

Die südwestliche Subregion Sandžak bildet einen Sonderfall aus dieser Hinsicht. Ihre mehrheitlich muslimische Bevölkerung ist mit dem osmanischen Erbe und der Sprache eng und gerne verbunden. Sie werden im Folgenden nicht berücksichtigt.

Die Spuren des osmanischen Türkischen in der südlichen regionalen Variante der serbischen Sprache sind breit gefächert. Sie befinden sich im Wortschatz für Essen und Küche, Haushalt, Landwirtschaft und vielen weiteren Bereichen. Bei meinen Besuchen in der Türkei staunte ich immer wieder, wie viele Wörter ich erkannte – auch wenn einige dieser Wörter heute eine andere Bedeutung haben.

Seinen komšija (Nachbar) kann man als ćorav (blind), ćupav (zottelig) oder ćelav (kahl) beschreiben. Im Schlafzimmer benutzt man jorgan (Steppdecke) und jastuk (Kissen) und trägt papuće (Hausschuhe). Auf dem Küchentisch stehen sećer (Zucker), patliđan (Aubergine) und pasulj (Bohnen). Ein Blick durch das offene kapija (Tor) auf die sat (Uhr) auf dem kula (Turm) verrät uns: Jok (nein), zum Glück ist es noch nicht Zeit zu gehen.

Osmanisch-türkisch „is alive and well“ im Süden. Aber was ist mit den nördlichen Landesteilen? Im Norden Serbiens befindet sich die sprachlich diverse Region der Vojvodina. Die historischen Regionen, die heute die Autonome Provinz Vojvodina bilden, gehörten bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zum Königreich Ungarn.

Dort kommt man mit der südserbischen Variante nicht sehr weit. Auch wenn zahlreiche osmanische – oder durch das Osmanische vermittelte – Wörter in ganz Serbien verwendet werden, viele von ihnen sind auf die südlichen Regionen begrenzt. So würde ich in der Vojvodina auf hochgezogene Augenbrauen und Unverständnis treffen, wenn ich zejtin (Öl; im modernen Türkischen: Oliven) oder eine bostan (Wassermelone; aus dem persischen Bustan = [Obst]garten) auf dem Wochenmarkt kaufen wollte.

Der Einfluss des Ungarischen

Hier käme ich – vor allem auf dem Wochenmarkt – mit Ungarisch etwas weiter. Auch wenn die ungarische Minderheit in der Provinz immer kleiner wird, bleiben die Konturen der sprachlichen Phantomgrenze noch erkennbar. Da aber diese Region seit Jahrhunderten ethnisch und sprachlich sehr vielfältig war, sind die ungarischen Spuren verwischt. Trotzdem bleiben Wörter wie paprikaš, gulaš, vajkrem (eine Art Milcherzeugnis) oder salaš (Bauernhof) in der Vojvodina im täglichen Gebrauch.

Deutsche Sprachspuren

Die deutsche Sprache hat tiefgreifende Spuren im Serbischen hinterlassen. Im Gegensatz zum Osmanischen und Ungarischen geht es hier nicht um eine ehemalige politische Grenze. Denn nur während der Besatzung im Zweiten Weltkrieg waren Teile Serbiens unter deutscher Herrschaft. Deutsch als Verwaltungssprache in habsburgisch verwalteten Gebieten hatte zwar Auswirkungen auf die Umgangssprache(n). Die meisten deutschen Wörter jedoch gelangen ins Serbische durch das Zusammenleben mit deutschen und deutschstämmigen Personen.

Ab dem 18. Jahrhundert kamen deutschsprachige Einwanderer in die nördlichen Regionen des heutigen Serbiens in mehreren Wellen. Sie stammten aus verschiedenen Teilen des Heiligen Römischen Reiches. Sie und ihre Nachkommen werden heute kollektiv als Donauschwaben bezeichnet. Mehrheitlich lebten sie in den mit fruchtbarem Boden gesegneten Dörfern und Kleinstädten Vojvodinas. Deutschsprachige Geschäftsleute eröffneten auch Fabriken und Firmen in ganz Serbien. Auf dem Land genauso wie in den Städten trugen sie wesentlich zur Industrialisierung des Landes bei. In der Zwischenkriegszeit machten Deutschsprachige knapp 6,5 Prozent der Bevölkerung Serbiens aus. In der Vojvodina betrug ihr Anteil mehr als 20 Prozent.

Die kulturelle und sprachliche Phantomgrenze der sogenannten deutschen Siedlungsgebiete ist in Serbien bis heute spürbar. Die Verbreitung deutscher Wörter reicht jedoch deutlich über diese ehemalige Grenze hinaus. Die deutschen Lehnwörter im serbischen Wortschatz sind zahlreich. Vor allem in den Bereichen Technik, Mechanik und Handwerk hat die deutsche Sprache die serbische maßgeblich geprägt.

Dieser erstaunlich reiche Einfluss lässt sich am Beispiel einer Autoreparatur plastisch illustrieren. Mein Auto wollte nicht starten, also musste ich den auto šlep / šlep služba (Autoabschleppdienst) anrufen. Nun schaut sich ein majstor (Meister) gerade die šoferšajbna (Windschutzscheibe) an, dann öffnet er die hauba (Haube) und prüft im Anschluss auch noch den auspuh (Auspuff). Da er nichts Ungewöhnliches gefunden hat, nimmt er nun die kuplung (Kupplung) und die felge (Felgen) unter die Lupe. Mit einem šrafciger (Schraubenzieher) in Hand läuft er um das Auto herum und prüft jede šraf (Schraube). Ich hoffe, neben der Reparatur kann er auch noch die kleinen Kratzer durch farbanje (färben) beseitigen.

Die Deutschen sind heute – mit wenigen Ausnahmen – aus Serbien verschwunden. Die meisten flüchteten im Jahr 1944. Diejenigen, die zurückblieben, wurden in Internierungs- und Arbeitslager geschickt, wo viele von ihnen starben. Im neugegründeten sozialistischen Jugoslawien sprach die politische Führung der deutschen Volksgruppe kollektive Schuld aus, enteignete ihr Vermögen, und verbot die Verwendung der deutschen Sprache. An die Konturen des ehemaligen Siedlungs- und Einflussbereichs der Deutschen erinnert heute die kulturelle und sprachliche Phantomgrenze.

Neue politische und sprachliche Grenzen – Das Ende der serbokroatischen Phantomgrenze

Mit den neuen politischen Grenzen entstehen auch neue Sprachgrenzen in der Region. Eine solche neue Grenze entsteht seit den Jugoslawienkriegen der 1990er-Jahre zwischen Serbien und Kroatien. Dies wird vor allem auf kroatischer Seite intensiv betrieben und zielt auf die Reinigung des Kroatischen von allen serbischen und –noch schlimmer – osmanischen Einflüssen.

Diese bewusste Abgrenzung sollte Kroatiens Zugehörigkeit zu Zentraleuropa und zum „westlichen“ Kulturkreis unterstreichen. Gleichzeitig sollte sie die Phantomgrenze der einstigen gemeinsamen serbo-kroatischen/kroato-serbischen Sprache Jugoslawiens verwischen.

Die serbo-kroatische Phantomgrenze in Kroatien ist also am Verschwinden. Eine ihrer wenigen Überreste war bis etwa 2010 noch am Flughafen von Rijeka zu sehen. Das Wort aerodrom stand stolz auf dem Schild, das bei der Modernisierung des Flughafens ausgewechselt wurde. Aber, oh Schreck! Statt des politisch korrekten kroatischen zračna luka steht nun das englische Wort airport. Beobachten wir hier gerade die Entstehung einer neuen kulturellen Sprachgrenze?!

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