,,Wenn ich hierher zurückkomme, dann überfällt mich das Gedächtnis der Heimaterde.“ | Gabriela Adameșteanu: Der Trevi-Brunnen | Besprechung
von IKGS München
Gabriela Adameșteanu ist eine der wichtigsten rumänischen Autorinnen der Gegenwart, die sich in ihren Texten immer wieder an die Traumata der rumänischen Geschichte des 20. Jahrhunderts heranwagt.
2. Juli 2024Gabriela Adameșteanu: Der Trevi-Brunnen. Roman. Aus dem Rumänischen von Eva Ruth Wemme. Berlin: Die Andere Bibliothek 2023. 448 S.
Der vorliegende Roman Der Trevi-Brunnen erschien unter dem italienischen Titel Fontana di Trevi 2018 im Verlag Polirom in Bukarest. Ins Deutsche übersetzt wurde er – wie immer in hervorragender Qualität – von Eva Ruth Wemme. Er erschien 2023 in der bibliophilen Reihe Die Andere Bibliothek der Aufbau Verlage. Gemeinsam mit Adameșteanus 1975 und 2010 erschienenen Romanen Drumul egal al fiecărei zile [Der gleiche Weg an jedem Tag, 2013] und Provizorat [Das Provisorium der Liebe, 2021] bildet der Text in gewisser Weise eine Trilogie. Alle drei Romane umkreisen die Protagonistin Letitia Branea in unterschiedlichen Etappen ihres Lebens. Während der erste Roman Kindheit, Jugend und Beginn der Beziehung der Protagonistin zu ihrem späteren Ehemann Petru Arcan darstellt, wird im zweiten Roman Letitias Verhältnis mit ihrem Kollegen Sorin Olaru geschildert. Im vorliegenden dritten Roman ist Letitia eine ältere Frau, die dreißig Jahre zuvor Rumänien verlassen hat und mit Petru Arcan in Frankreich, in dem Ort Neuvy in der Touraine, lebt.
Der Roman besteht aus zwei Teilen, beide heißen „Lindenallee“, im zweiten ist der Name auf Französisch „Allée de Tilleuls“ wiedergegeben. Im ersten Teil befindet sich die Erzählerin auf der „Lindenallee“ in Bukarest, im zweiten auf der „Lindenallee“ in Neuvy. Teil 1 besteht aus 18 Kapiteln, von denen 17 mit Personennamen übertitelt sind und die insgesamt fast 400 Seiten umfassen. Alle 17 Figuren sind mit der Erzählerin und bestimmten Etappen ihres Lebens verbunden. Der zweite Teil umfasst nur das etwa zwanzigseitige Kapitel „Zweifarbiges Leben“. Allein diese Gewichtung drückt bereits etwas aus: Die Reflektionen der Erzählerin in Bukarest sind deutlich vielschichtiger und wortwörtlich vielgestaltiger als die in Frankreich.
Das Geschehen wird durchgängig von Letitia Arcan in der 1. Person erzählt, sodass alles ausschließlich aus ihrer Perspektive dargestellt wird.
Der Roman hat eine Rahmenhandlung: Letitia befindet sich im heutigen Bukarest. Sie hat sich bei ihren Freunden Sultana und Aurelian Morar einquartiert. Die Rahmenhandlung umfasst nur einen einzigen Tag. An diesem Tag möchte sich die Erzählerin mit ihrem Halbbruder und einem neuen Anwalt treffen, um endlich ihr Erbe zu erhalten. Es handelt sich dabei um das Erbe ihrer Onkel Caius und Traian Branea, das ihr den Kauf einer Villa im Bukarester Stadtviertel Cotroceni ermöglichen soll.
Außerdem hat sie ihr Romanmanuskript nach Bukarest mitgebracht und hofft, einen Verleger dafür zu finden. Auf den Roman wird immer wieder angespielt, ohne dass auch nur einmal sein Titel genannt wird. Man ist geneigt, Das Provisorium der Liebe für diesen Roman zu halten, zumal sich immer wieder direkte Anspielungen darauf finden. So heißt es beispielsweise auf Seite 72: „Damals kam mir nicht der Gedanke, dass er sogar in den Jahren, in denen er sehr verliebt in mich gewesen war, unsere Beziehung als eine provisorische1 hätte betrachten können.“ Diese Anspielungen wären letztlich als Spiel mit der Fiktion zu werten, denn es ist natürlich klar, dass die Autorin des Romans Das Provisorium der Liebe nicht Letitia Arcan ist, sondern Gabriela Adameșteanu. Nichtsdestotrotz bereitet es ein spezielles Vergnügen, den Irreführungen der Erzählerin nachzugehen, zu denen auch eine Aussage passt wie: „Die, die mich verraten haben, habe ich von echten Menschen in Menschen aus Papier verwandelt“. (S. 30f.) Die Erfassung dieser metafiktionalen Elemente während der Lektüre schafft in gewisser Weise ein Gegengewicht zu den verhandelten Themen.
Innerhalb der oben geschilderten Rahmenhandlung wirkt auf die Erzählerin in Bukarest das „Gedächtnis der Heimaterde“. (S. 17) Mit diesen Worten, die ihr Ehemann Petru Arcan formuliert hat, meint sie die allmähliche Rückkehr der Erinnerungen an ihre Vergangenheit in Rumänien. Diese Erinnerungen durchziehen die Rahmenhandlung und führen Letitia zu ganz unterschiedlichen Zeitebenen und Figuren. Die achtzehn Kapitel evozieren weniger die Geschichte der jeweiligen Figur, sondern bilden vielmehr den Anlass für Erinnerung. So entsteht beispielsweise im ersten Kapitel vor ihrem inneren Auge das Bild ihrer selbst, als sie nach dem in einer Klinik durchgeführten Schwangerschaftsabbruch bei den Morars unterkam. Aus dieser Initialerinnerung entwickelt sich die Erinnerung an die Erlebnisse der Erzählerin in der Klinik, an die lauernden Securisten, an die schrecklichen Geschichten misslungener Abtreibungsversuche und die damit verbundenen grausamen Schicksale vieler Frauen. Dahinter steht Ceaușescus Dekret 770 von 1966, das Abtreibung nur unter ganz besonderen Bedingungen zuließ, ansonsten aber zugunsten des Bevölkerungswachstums unter Strafe stellte und das bis heute im kollektiven Gedächtnis Rumäniens nachwirkt.
Wie in den beiden Vorgängerromanen um Letitia Branea geht es auch in diesem Text um die rumänische Zwischenkriegszeit, die Zeit der Legionäre und ihres Konflikts mit Ion Antonescu, aber auch um die frühen 1950er-Jahre stalinistischer Prägung in Rumänien und die ebenfalls barbarische Abrechnung mit allen, die als Kollaborateure des alten Regimes gebrandmarkt worden waren. Dieses Schicksal ereilte auch die beiden Onkel von Letitia, Caius und Traian Branea. Für Letitia war die Verwandtschaft, also ihr Vater Victor mit diesen beiden Brüdern, der zentrale Grund für ihre im Sozialismus als ungesund bezeichnete Akte, die ihr Schicksal ein Leben lang bestimmt hat.
Das Erdbeben in Bukarest 1977 hat sich ebenfalls in die Erinnerung der Erzählerin eingeschrieben, weil es nicht nur ihr Zuhause unbewohnbar machte, sondern zeitlich mit der Ausreise ihres Mannes und ihrem ersten Abtreibungsversuch zusammenfiel. Auch Bruchstücke der Revolution von 1989 und die wenig später folgenden Mineriaden werden samt Konsequenzen für die Figuren von der Erzählerin evoziert. Beispielsweise wird erzählt, wie der Freund von Claudia Morar – Tochter von Sultana Morar – bei den Demonstrationen 1989 ums Leben kam und Claudia 1990 selbst Opfer einer Mineriade wurde.
Die Figur ihres Mannes Petru Arcan ist der Erzählerin auch Anlass, sich an die Kulturpolitik Rumäniens im weitesten Sinne zu erinnern. Aufgrund eines neuen Dekrets von Ceaușescu wurde nämlich die Karriere ihres Mannes zerstört. Arcan hatte in seinem Doktorvater so lange Rückhalt und Unterstützung gefunden, bis der in Rente ging, das Institut neu aufgestellt und Petru aufgrund seiner Anhängerschaft an die westliche Wissenschaft marginalisiert wurde. Anlässlich einer Konferenz in Genf gelingt es ihm, Rumänien zu verlassen. Er findet eine Anstellung beim Sender Radio Freies Europa, der im Übrigen ein ganz eigenes Thema im Roman bildet.
Nicht zuletzt ist das Exil an sich vermutlich das Hauptthema des Romans. Für Petru Arcan bedeutete es letztlich, dass man seine „Jahre in Rumänien auf den Müll geworfen“ (S. 20) hat. Kein einziger seiner Versuche, als Wissenschaftler in Westeuropa Fuß zu fassen, gelingt. Und niemand im Ausland macht sich die Mühe zu verstehen, warum er trotz seiner mit summa cum laude bewerteten Doktorarbeit in Rumänien den Doktortitel nicht zuerkannt bekam.
Angesichts dieser nur angerissenen Vielfalt an Motiven, Themen und Figuren lässt sich konstatieren, dass der Roman, wie eigentlich alle Texte Gabriela Adameșteanus, die großen Themen der rumänischen Geschichte des 20. Jahrhunderts verhandelt. Für seine Lektüre bedarf es entweder einer guten Kenntnis der rumänischen Geschichte beziehungsweise Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts oder aber des Willens, sich in diese hineinzudenken, anders ist die Fülle an Verweisen auf historische Realia kaum zu bewältigen. Das Ineinanderschieben der Figuren und Zeitebenen zwingt zudem zu einer hohen Aufmerksamkeit im Leseprozess. Sicher ist es nicht absolut notwendig, für die Lektüre des dritten Romans die beiden Vorgängerromane Der gleiche Weg an jedem Tag und Das Provisorium der Liebe zu kennen, aber andererseits erschließen sich die immer nur bruchstückhaften Bilder der einzelnen Figuren und das Verständnis ihres Schicksals doch besser über alle drei Texte. Das gilt natürlich auch für Letitia Arcan, die selbst Schlüsselmomente ihres Lebens in allen drei Romanen evoziert, umkreist und teilweise zu neuen Einsichten gelangt, wie im vorliegenden Roman sehr gut in der Auseinandersetzung mit ihrer Mutter zu sehen ist.
Wegen der vielen Figuren ist es übrigens sehr von Nutzen, dass am Ende des Romans ein Verzeichnis aller Personen angehängt ist.
Vor dem Hintergrund des bisher Ausgeführten soll noch etwas zum Romantitel gesagt werden. Dieser lässt in einer ersten Anmutung sicherlich eine irgendwie geartete thematische Verbindung zu Italien erwarten. Italien ist allerdings gerade kein Schauplatz des Romans, sondern es sind Rumänien und Frankreich. Vom Trevi-Brunnen in Rom heißt es, dass nach Rom wiederkommt, wer einst eine Münze in das Becken geworfen hat. Rom als die „ewige Stadt“ ist natürlich per se ein Sehnsuchtssymbol. Aber eigentlich ist es in diesem Text nur die Figur Claudia Morar, die mit ihren Eltern im April 1990 tatsächlich vor dem Brunnen steht, die Münze wirft und zum Studium nach Rom zurückkehrt. Das Motiv des Trevi-Brunnens hat also eher eine symbolische Bedeutung. Es durchzieht den Roman als Symbol für den Weggang vieler Menschen aus Rumänien. So heißt es zum Beispiel im Text: „Ihre Kinder […] müssen wohl auch eine Münze in den Trevi-Brunnen geworfen haben. Alle sind weg […]“. (S. 59) Auch Letitia Branea ist aus Rumänien fortgegangen, aber es wird deutlich, dass sie immer wieder zurückkehren wird, um sich durch ihr Erinnern ihrer Vergangenheit und damit ihrer selbst zu vergegenwärtigen.
Abschließend soll darauf hingewiesen sein, dass der Tag in Bukarest, an dem die Erzählerin ihren Erinnerungen freien Lauf lässt, ehe sie zu dem Treffen aufbricht, ganz anders verlaufen wird, als sie erwartet – sowohl in Bezug auf die Klärung der Erbschaft als auch in Bezug auf ihren Roman. Das verleiht dem vielschichtigen, anspruchsvollen Text eine unerwartete Leichtigkeit. Auch darin zeigt sich die große Erzählkunst von Gabriela Adameșteanu.
Von Gundel Große