„Wir waren neugierig, etwas zu sehen und greifen zu können, das wirklich aus Tetschen stammte, der Heimat unserer Familie väterlicherseits, die für uns eine Art Traumexistenz gewonnen hatte, so lebendig war sie für uns durch die fast täglichen Erzählungen und so unerreichbar zugleich,“ erinnert sich Franz Thun, Enkel von Franz Anton Thun, des ehemaligen Herrn aus Tetschen, an den Augenblick, als das verloren geglaubte Altarbild Mariae Verkündigung bei seiner Familie ankam.

Schutzherren – Verantwortung als Verpflichtung

Nicht nur Bücher, sondern auch Bilder haben ihr Schicksal. Das spiegelt oft sowohl die Schicksale ihrer Besitzer als auch die große Geschichte um sie herum. So ist es auch im Falle des Altarbildes aus der Kreuzerhöhungskirche im nordböhmischen Tetschen, auf Tschechisch Děčín.

Die Geschichte des Altarbildes und der Familie Thun zog zu Beginn der 1990er Jahre nicht nur die Aufmerksamkeit der Presse auf sich, sondern auch der breiten Öffentlichkeit. Inzwischen scheint sie längst vergessen zu sein, doch sie ist eins der Splitter im Mosaik des Wirkens des böhmischen und mährischen Adels im Exil nach 1945, das wir im Rahmen der Ausstellung Kulturelle Brücken in Europa. Adel aus Böhmen und Mähren nach 1945 im Adalbert Stifter Vereins aufgedeckt haben und erzählen wollen.

Tetschen liegt an der Elbe, unweit von der deutsch-tschechischen Grenze, also tief im Sudetenland. Die Stadt war seit dem 17. Jahrhundert das Zentrum der Herrschaft der Adelsfamilie Thun und Hohenstein. Das prächtige Schloss ragt über dem Fluss empor und ist weit aus der Ferne zu sehen.

Schloss Tetschen. Foto Ondřej Koníček,
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Decin.JPG

Direkt unter ihm lies Maximilian Graf von Thun und Hohenstein (1638–1701) eine Kirche bauen, die 1691 eingeweiht wurde und mit dem Schloss durch einen privaten Gang verbunden ist. Thun und Hohensteins waren Schutzherren der Kreuzerhöhungskirche, wie sie benannt wurde – und blieben es auch nach 1932, als sie das Schloss aus finanziellen Gründen verkaufen mussten, an den tschechoslowakischen Staat.

Reisen eines Altarbildes – unverhoffte Rückkehr zur Familie

So kam es, dass das damalige Familienoberhaupt, Franz Anton Fürst von Thun (1890–1973), inmitten des Zweiten Weltkrieges eins der Bilder in der Kirche, das Altarbild Mariae Verkündigung, das am linken seitlichen, sogenannten Rosenkranzaltar hing, zur Restaurierung in den Böhmerwald schickte.

Der Name des Malers aus dem 18. Jahrhundert ist unbekannt, genauso wie die Identität des böhmerwälder Restaurators.

Blick auf die Kirche vom Schloss. Der private Gang befindet sich unter dem linken Dach an der Auffahrt. Foto Maggie Hammond, https://commons.wikimedia.org/wiki File:Decin_CZ_Rose_Garden_09.jpg

Die Restaurierung wurde bis zum Kriegsende nicht fertig. Franz Anton Thun wurde mit seiner Familie enteignet und im April 1946 in einem Viehwagon nach Bayern vertrieben. Das Altarbild galt als verschollen. Bis es eines Tages bei Franz Anton Thun in seinem Zufluchtsort im schwäbischen Mickhausen ankam. Dem Restaurator, der am Kriegsende mit seiner Werkstatt nach Bayern fliehen konnte, war es gelungen, die Adresse von F. A. Thun ausfindig zu machen.

Franz Anton Thun in seinem Arbeitszimmer um 1942.
Foto Privatarchiv

Das Altarbild hing nicht mehr in der Tetschener Kirche, sondern in seinem neuen schwäbischen Zuhause. Der Eiserne Vorhang trennte Ost und West in Europa, und somit auch die alte und neue Heimat. In diesem Altarbild materialisierte sich folglich die geistige Bindung, die trotz der Vertreibung und der Entfernung über die Grenze andauerte.

Viele Menschen haben bei der Vertreibung nach 1945 trotz des eingeschränkten Gepäcks etwas mitgenommen, was einen emotionalen Wert für sie hatte und an ihr Zuhause erinnerte. Etwas, was sich weiter in den Familien vererbte und gehütet wurde. Solche Gegenstände waren vor einigen Jahren in der Ausstellung Mitgenommen – Heimat in Dingen des Hauses des Deutschen Ostens zu sehen.

Nun – das Schicksal des Altarbildes nahm nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und Öffnung der Grenzen einen etwas anderen Lauf.

Wieder zu Hause – Rückkehr als Versöhnung

Die Kreuzerhöhungskirche befand sich nach 1989 in einem desolaten Zustand, seit dem Kriegsende mehr oder weniger dem Verfall überlassen. Der Beginn der Renovierungsarbeiten verzögerte sich immer wieder. Entweiht wurde die Kirche jedoch nicht.

Die Nachfahren von Franz Anton Thun konnten nicht wieder reale Schutzherren der Kirche werden, nahmen allerdings die Fürsorge und Verantwortung zumindest auf der symbolischen Ebene wahr. Am 14. September 1991 wurde eine Vereinbarung zwischen der Stadt Tetschen als Besitzerin der Kirche und der katholischen Kirche über eine gemeinsame Nutzung unterzeichnet. Als Garant dieser Vereinbarung fungierte der Enkel und Familienoberhaupt Franz Thun.

Familie Thun in der Kirche, 14.9.1991. Foto Archiv der Stadt Tetschen/ Děčín

Da so das Fortbestehen der Kirche in ihrem ursprünglichen Zweck gesichert war, entschloss sich die Familie Thun, das Altarbild zurückzubringen. Die Rückführung erwies sich jedoch abenteuerlicher als gedacht: Die Transportfirma brachte das Bild mit Gasflaschen zusammen über die Grenze. Ausführlich berichtet hat darüber wie auch über die gesamte Rückführung Ota Filip in seinem Artikel “Das Bild ‚Mariä Verkündigung‘ hängt wieder in der Kreuzkirche“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 7. April 1993. Seit 1993 hängt nun das Altarbild Mariae Verkündigung wieder an seinem ursprünglichen Platz.

Das Altarbild hängt wieder an seinem ursprünglichen Platz.
Foto Stanislav Širlo.

In der Zeit nach der Wende des politischen Systems hoffte man auf die Restitution der ehemaligen Besitztümer – sie wurde zwar gefördert, vielfach jedoch auch durch gerichtliche Klagen. Franz Anton Thun wurde auf der Basis der Beneš-Dekrete vertrieben, und deshalb in Tschechien von der Restitution ausgeschlossen. Wovon zeugt die Rückgabe des Altarbildes, einer der wenigen materiellen Sachen, die auch nach der Vertreibung an die alte Heimat erinnerten? Es war sicher eine Geste der Versöhnung, vermutlich auch ein Ausdruck des vererbten Verantwortungsgefühls der Schutzherren der Kreuzerhöhungskirche. Das sich über die Grenzen und Generationen hinweg gehalten hat.

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