Hellmut Seiler: Aufhebung der Schwerkraft. Lyrik. Berlin: Edition Noack & Block 2023. 141 S.  

Die Schwerkraft steht für Seilers literarisches Versteckspiel, die zu Erkenntnissen, Reisen und individuellen Prägungen führt. Das Motto dieser Lyrik trotzt der Schwerkraft und verweist auf die Distanz, die sich zwischen dem Leser und dem lyrischen Schaffen befindet. Die Lektüre erweist sich als lyrischer Tango, in dem die Wahrnehmung und das Verstehen von Verborgenem gefordert sind. Es ist eine anspruchsvolle, aber einnehmende Lektüre. Anspruchsvoll, weil das Leben im kommunistischen Rumänien reflektiert wird und es viel Neues zu entdecken gibt. In insgesamt 19 Gedichten begibt sich der Leser auf eine Zeitreise durch die Jahrzehnte und streift von Exkursionen ‒ Im Goethe-Haus zu Frankfurt a. M. (S. 35), die auf den 27. Oktober 2018 datiert ist ‒ bis hin zu Begegnungen ‒ September, Mai (S. 84) führt zum 3. August 2019 zurück und ist Werner Söllner gewidmet. Nicht nur die lyrische Schöpfung ist beachtenswert, sondern auch die künstlerische Note des Gedichtbandes, die aus fünf ausgewählten Fotografien von Éva Seiler-Iszlai besteht. In Seilers Lyrik entsteht ein Begegnungspunkt, an dem Fotografie und Poesie aufeinandertreffen und einen Dialog zwischen den Sinneswahrnehmungen und dem Text ermöglichen. Durch die Verbindung von visuellen und sprachlichen Elementen schafft Seiler eine einzigartige Synthese, die es dem Leser erlaubt, sich sowohl durch die Bilder als auch durch die Worte in seine Gedichtwelt zu vertiefen. Diese Synthese erweitert die traditionelle Grenze zwischen Bild und Text und lädt zu einer vielschichtigen Interpretation ein, die über die bloße Betrachtung oder das Lesen hinausgeht. 

Das dichterische Schaffen Seilers lädt zu einer „schwerelosen“ Lektüre ein, auf Versmaß, Reim oder Rhythmus wird weniger geachtet. Es sind Prosagedichte, die scheinbar auf persönlichen Erlebnissen, Erinnerungen und Selbstreflexionen beruhen. Schon in den ersten fünf Gedichten kann man die Schwerelosigkeit als Leitmotiv erkennen. Die Gedichte locken den Leser aus der Gemütlichkeitsecke heraus und erfordern eine aufmerksame Lektüre. Nicht die lyrischen Formelemente (Reim, Rhythmus, Strophenform) sind zu analysieren, sondern die geschlichteten Informationen. 

Hellmut Seilers Gedichtband ist eine Fundgrube an Informationen und Offenbarungen. Schon die ausgewählten Bilder sind bemerkenswert und laden den Leser ein, sich intensiv mit dem dargestellten Epos auseinanderzusetzen. Die Vielfalt der Themen und Motive in Seilers Gedichtband bietet zahlreiche erfrischende Interpretationsmöglichkeiten. Seine Gedichte decken ein breites Spektrum an Emotionen und Gedanken ab, von tiefgründigen Reflexionen bis hin zu alltäglichen Beobachtungen. Diese Vielseitigkeit ermöglicht es den Lesern, eigene Verbindungen zum Geschriebenen herzustellen und neue Einsichten zu gewinnen. Seilers geschickter Einsatz von Sprache und Bildsprache verstärkt die Wirkung seiner Gedichte und lässt sie in ihrer Bedeutung und Tiefe erstrahlen. Ein Beispiel für diese Bedeutung und Tiefe in Seilers Lyrik ist Weinlese beim Übergang zur Weinverkostung (S. 49), das dem deutschen Astronauten Alexander Gerst gewidmet ist, der mehr als 100 Tage im All verbrachte. Es ist das erste und einzige Gedicht, in dem das Wort „Schwerkraft“ vorkommt. Erwähnenswert ist auch das Gedicht Komet Neowise (S. 122), das von dem Kometen C/2020 F3 (NEOWISE) handelt, dessen Laufbahn 2020 in unmittelbarer Nähe der Erde aufgezeichnet wurde. Das Gedicht offenbart außerdem, dass die Einzigartigkeit ein Konstrukt von Menschenhand ist, denn die Menschen neigen dazu die Geschichte zu wiederholen, so verhält es sich auch mit aktuellen (politischen) Ereignissen. Der Autor zitiert diesbezüglich Hannah Arendt: „[n]icht der Mensch bewohnt diesen Planeten, sondern Menschen. Die Mehrzahl ist das Gesetz der Erde.“

Die Gedichte verweisen immer wieder bereits im Titel auch auf geografische Orte: Begegnung im Great Bear Rainforest (S. 107); Dobring/Dobârca, Kreis Hermannstadt/Sibiu (S. 111); Hamruden, einen Spaltbreit offen (2017) (S. 118); Reschitza oder: Früher hieß es Zukunftsgläubigkeit (S. 129). Die vielfältige räumliche Verortung offenbart die Reiselust des Autors, und intermediale Referenzen bereichern die Gedichte ebenso: Giacometti (S. 30); Caravaggio (S. 96); Millionen, Stradivari (S. 124), solche musikalischen Verweisstellen fungieren wie eine Art Soundtrack zu den Gedichten. Politische Andeutungen fehlen genauso wenig wie selbstreflexive Hinweise: Der Maulwurf (S. 19); Der Zigeunerjunge (S. 21); Die Beiden (S. 23); Mund ist nicht Maul (S. 38) oder Bückware (S. 53). 

Hellmut Seilers Gedichtband lässt sich auch als Schwelle zwischen dem Raum- und Zeitkontinuum der Erinnerung und des Daseins lesen. Auf dieser Grundlage etabliert sich ein schwerelos-lyrisches Schreiben, das die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft poetisch verwischt und so einen vielschichtigen Dialog zwischen unterschiedlichen Zeitebenen und Erfahrungen schafft. Seilers Gedichte sind einfach zu lesen, doch es braucht einen weiten Blickwinkel, um die Quintessenz seiner Lyrik zu erfassen. Durch Collage, Addition zum Beispiel im Gedicht Streichhölzchen (S. 41), Kürzungen wie im Gedicht Giacometti (S. 30) und Verlängerungen wie im Gedicht Die Schreibmaschine II (S. 58f.) liefert Seiler einen unkonventionellen – Der Zigeunerjunge (S. 21), Die Beiden (S. 23), Mund ist nicht Maul (S. 38.) – Einblick in verschiedene Lebensaspekte und ermöglicht so dem Leser die Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit. 

D. Doris Coța

Weitere Beiträge zu diesen Themen