Franz Hodjak: Das Glas gibt dem Wein die gewünschte Form. Aphorismen. Mit einem Nachwort von Alexander Eilers. Würzburg: Königshausen & Neumann 2023. 125 S. 

Schmal ist nichts an dieser Ballung vernünftiger Einsichten, gepaart mit witzig umgekrempelten, dezidiert gestrafften und paradox pointierten Merksätzen – auf dass wir erneut sanft darauf gestoßen werden, wie gut wir tun daran, diesem Seh- und Satzmeister die Treue zu halten, denn: „Alle hatten es gewusst, aber erst nachdem Lichtenberg es gesagt hatte, wurde es wahr“. (S. 60) Ein Schelm, der nicht an Hodjak dabei denkt. 

Den Achtzigjährigen treibt um und an, dass zwar diese „Alle“ allerhand Wahrheiten gewusst haben und wissen mögen, auch die seinen, das Sagen aber Sache des Einzelnen bleibt. „Viele wissen gar nicht, wo es hingeht; sie sind bloß unterwegs, um andere zu überholen.“ (S. 53) Einhalt ist das Gebot der Stunde, zumal derzeit andauernd die Stunde schlägt, zugleich ist der Einhalt ein Angebot gerade dieses Nimmermüden, der sich selbst keinen gewährt. Jung ist er nicht mehr, aber Alt-Klugheit verbietet er sich nicht nur, er verbittet sie sich mit derselben Bestimmtheit, mit der er das Sagen pflegt. „Meine Meinung kann sich ändern, nicht aber meine Überzeugung.“ (S. 36) Dennoch möchte man ihm gerne gerade auch Letzteres zutrauen. 

Wir Zeitgenossen staunen dankbar über Hodjaks beherzten Zugriff auf ein Vokabular, das uns aus der Zeit gefallen erscheint: Hoffnung und Trost, Glück und Unglück, Gott und Kirche, Optimismus und Pessimismus, gute und schlechte Menschen, Gerechtigkeit und Unrecht, Freiheit und Diktatur – das ganze Register an so gängigen wie strapazierten Wörtern, die hier zu neuen Worten geprägt werden. Keine Scheu kennt der Wortmächtige vor dem Pfeifen der Spatzen auf den Dächern, auch nicht vor den Plätzen, auf denen sich „Alle“ tummeln. Gemeinplätzen und Trampelpfaden gewinnt er mit spielerischer Grazie Reize ab: „Je dümmer der Kunde ist, desto besser taugt er als König“. (S. 73) Nachgerade anrührend ist die sanfte Gelassenheit, mit der er Trauriges, ja Tragisches auf Alltägliches herunter bricht: „Das Gemeine an der Liebe ist, dass immer der, der am meisten liebt, auch am meisten leidet“. (S. 42)

Ein Recht zur Selbstgewissheit habe er sich nicht zuletzt durch Lesen verdient: „Ich wanderte durch viele Bücher, bis ich schließlich bei mir ankam“. (S. 52) Unter den vielen hat er dabei offenbar nicht nur jene von Georg Christoph Lichtenberg, sondern auch von Jean Paul verinnerlicht bis zur kollegialen Identifikation per Paraphrase: „Erinnerung ist Flucht in ein Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann“. (S. 34) Eine schlicht natürliche Geste ist darum der kollegiale Wink in Richtung Karl Kraus: „Wer etwas zu sagen hat, den suchen die Wörter“. (S. 27) Umso eleganter schwingt sich der bio-bibliografische Bogen zurück bis ins Jahr 1974, zum Titelgedicht des dazumal in Klausenburg „selbstverlegten“ Bandes Spielräume. Gedichte & Einfälle: „Die Freiheit liegt im Spielraum, den wir ihr geben“. (S. 109) 

Allerweltswörter und Dichterwort, eigentlicher und übertragener Sinn, formelhaftes Klischee und sprachlich gebundene Form – Franz Hodjak lässt sie aufeinandertreffen und erzeugt schlankerhand das, was nicht oft vorkommt: „Geistesblitze sind selten. Gewöhnlich donnert es nur“. (S. 103) Er hingegen ist leise eingedenk all der gewittrigen Verfinsterung und der, nun ja: blitzgescheiten, Erkenntnis: „Nach der Geburt lernt man zuerst reden[,] und erst viel, viel später lernt man auch schweigen“. (S. 75) 

Hell strahlt die Szenerie, wenn der Lyriker vortritt mit seinem bildhaften Vorstellungs- und Gestaltungsvermögen. Dann geht einem buchstäblich ein Lichtlein auf, ja man darf sich, traulich geschmeichelt, zu jenen „Allen“ zählen, für die hier einer das Sagen übernimmt: „Sitzen sich ein Mann und eine Frau verlegen gegenüber, ist das meist ein Zeichen für den Beginn oder für das Ende einer Liebe“. (S. 61) Und wenn man einst gar Teil gehabt hat an der sozialistischen Erfahrungswelt, die dem Dichter widerfuhr, darf man stilles Einvernehmen mit ihm genießen: „In Diktaturen gewähren die Fesseln den Händen immerhin so viel Spielraum, dass diese noch Beifall spenden können“. (S. 88) Oder in Erinnerung an den gemeinsamen Ritt über den rumänischen Bodensee gelinde erschrecken: „Ich habe die Zeiten noch erlebt, als selbst Tote zum Klassenfeind gehörten“. (S. 74) 

Alexander Eilers hat mit Ausführungen über die Titelmetapher vom Wein die „Späne“, die funkelnden Gedankensplitter eines, der „nie großen Wert darauf gelegt [hat], so zu leben, dass ich gesund sterbe“ (S. 62), ins schier Mythische gehoben. Ein durchaus anregendes Beginnen, (wein)selig frönt man der Lust am Spekulieren, wenngleich just am Schluss sich auftut, was auch weisen Männern auf schwindelnd hoher Warte passieren kann, wenn sie sich in ihren virtuos gewundenen Gedankenschleifen verstricken: „Ein Sieg lohnt sich wirklich, wenn man nur gewinnt, was der Verlierer verliert“ (S. 119), vermeint Eilers zu zitieren. Auf Seite 27 heißt es allerdings: „Kein Sieg lohnt sich wirklich, wenn man nur gewinnt, was der Verlierer verliert“.

Franz Hodjak wird das lässliche Versehen, das schließlich die ihm eigene Dialektik gleichsam paroxystisch auf die Spitze treibt, mit einem Aphorismus quittieren, der auf Karl Kraus zurück-, jedoch hoffnungs- und verzweiflungsvoll, Zeitgenossen würden sagen: ultimativ, ins Offene weist: „Im Zweifelsfall sich immer für den Zweifel entscheiden“. (S. 53) 

Georg Aescht

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