Matthias Göritz, Amalija Maček und Aleš Šteger (Hgg.): Mein Nachbar auf der Wolke. Slowenische Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts. München: Carl Hanser Verlag 2023. 309 S.

Die Anthologie, die vom literarischen Netzwerk Traduki, von der Slowenischen Buchagentur (Javna agencija za knjigo Republike Slovenije) und vom Slowenischen Kulturzentrum Skica Berlin gefördert wurde, bietet eine beeindruckende Sammlung von Gedichten, die die vielfältigen literarischen Stimmen und Strömungen der slowenischen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts einfängt. Die sorgfältig ausgewählten Gedichte decken sowohl traditionelle als auch moderne Themen und Formen ab und ermöglichen dem Leser einen tiefgreifenden Einblick in die kulturelle und poetische, aber auch historische Landschaft Sloweniens, des kleinen Landes mit einer Bevölkerung von etwa zwei Millionen Einwohnern, das im Herzen Mitteleuropas liegt, an Italien, Österreich, Ungarn und Kroatien grenzt und sich von den Alpen im Norden bis zur Adriaküste im Südwesten erstreckt. Das Land ist geprägt durch eine abwechslungsreiche Landschaft, die von Bergen, Wäldern und Seen charakterisiert wird. Zudem verfügt Slowenien über eine kurze Küstenlinie. Aufgrund seiner zentralen Lage fungiert das Land als Knotenpunkt verschiedener europäischer Kulturen und Landschaften. Die geopolitische Lage Sloweniens am Schnittpunkt unterschiedlichster Einflüsse spiegelt sich auch im künstlerischen Schaffen des Landes wider. Darüber hinaus ist Slowenien, wie die Herausgeber im Nachwort der vorliegenden Anthologie feststellen, ein Land der Poesie: „Slowenien mag ein kleines Land sein, aber seine Poesie ist groß“. (S. 267) Tatsächlich sind von den 3.500 Büchern, die jährlich in Slowenien erscheinen, 300 Gedichtbände. 

Die Entscheidung der Herausgeber, eine Lyrikanthologie zu publizieren, ist also auch vor dem Hintergrund der seit jeher herausragenden Bedeutung der Lyrik in Slowenien nachvollziehbar. Bereits im 19. Jahrhundert, als das slowenische Siedlungsgebiet Teil der Donaumonarchie war, las (beziehungsweise schrieb) das Bildungsbürgertum in slowenischer Sprache, was als bewusster Akt nationaler Emanzipation bezeichnet werden kann: Denn während man Welt- oder Genreliteratur in deutscher Sprache las, sollte die slowenische Literatur in jeder Hinsicht Originalliteratur sein, „nicht Genre-Literatur, sondern spezifisch slowenisch und anders als das bisher Bekannte“. In diesem Kontext stellte Lyrik eine Möglichkeit dar, die schöpferische Kraft des Slowenischen zu beweisen, wie die Grazer Historikerin und Translationswissenschaftlerin Karin Almasy in einer ihrer Studien hervorhebt.

Obgleich sich der deutsche Kulturraum in nächster Nähe befindet und obwohl eine umfangreiche slowenische Lyrikproduktion vorzuweisen ist, stellt die vorliegende Anthologie einen der ersten Versuche dar, die slowenische Lyriklandschaft dem deutschen Publikum vorzustellen. Es sei hier insbesondere darauf verwiesen, dass am Rande der Übersetzungen der Gedichte ins Deutsche – teilweise von den Herausgebern Matthias Göritz, Amalija Maček und Aleš Šteger selbst übertragen – auch die slowenischen Originalgedichte klein gedruckt mitveröffentlicht werden. Die Anthologie kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt als die aktuell umfangreichste Anthologie moderner slowenischer Lyrik bezeichnet werden und ist das Ergebnis langjähriger Arbeit zahlreicher Übersetzerinnen und Übersetzer sowie Herausgeberinnen und Herausgeber.

Der Titel des Bandes bezieht sich auf ein berühmtes Gedicht von Edvard Kocbek (1904–1981), einer der einflussreichsten Intellektuellen Sloweniens im 20. Jahrhundert. Während Kocbeks Gedicht den Titel Der Nachbar auf der Wolke trägt, haben die Herausgeber das Possessivpronomen „mein“ verwendet und Kocbek paraphrasiert, um auf symbolischer Ebene die politische, historische und kulturelle Nähe zum deutschsprachigen Raum zum Ausdruck zu bringen. Die Nachbarschaft ist dabei sowohl von Harmonie als auch von Spannung geprägt, was insbesondere in Kärnten zum Ausdruck kommt, wo eine slowenische Minderheit lebt. Auch die Dichterinnen und Dichter, wie beispielsweise Gustav Januš (geb. 1903), Cvetka Lipuš (geb. 1966), Maja Haderlap (geb. 1961) oder Fabjan Hafner (1966–2016), stammen aus Kärnten und sind in der Anthologie vertreten. Des Weiteren verweist die Wolke im Titel auf etwas Grenzüberschreitendes, grundlegend Vernetzendes und Verbindendes, was die Fantasie anregt. Das rätselhafte Gedicht Kocbeks fungiert zudem als Motto, wird der Auswahl der Gedichte vorangestellt und führt in die vielfältigen Themen der slowenischen Lyrik des von Umbrüchen gekennzeichneten 20. Jahrhunderts ein. 

Bei der von Göritz, Maček und Šteger vorgenommenen Auswahl von Gedichten wurde jedoch ein klarer zeitlicher Schnitt gesetzt. Die für die slowenische Lyrik bedeutsame Romantik, aus der die Gedichte des größten slowenischen Dichters France Prešeren (1800–1849) stammen, wurde dabei außer Acht gelassen, sodass mit dem Zeitraum um den Ersten Weltkrieg begonnen wird. Diese Entscheidung lässt sich auch gut begründen, denn sie markiert den Zeitpunkt, zu dem die moderne slowenische Lyrik beginnt und allmählich eigene Konturen gewinnt. Die Anthologie vereint rund 80 Stimmen, die bis in die Gegenwart reichen. Die jüngste in der Anthologie vertretene Dichterin, Ana Svetel, wurde 1990 geboren. 

Die meisten der 80 in der Anthologie vertretenen Autorinnen und Autoren sind Kinder des 20. Jahrhunderts und seiner bewegten Geschichte. In historischer Abfolge wurden jedoch nur sechzehn zentrale Dichterinnen und Dichter des letzten Jahrhunderts vorgestellt. Ihnen ist jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet, das mit einer biografischen Skizze eingeleitet wird. Der Bogen spannt sich von Srečko Kosovels (1906–1926) expressionistischer Kriegslyrik über die bereits erwähnten Gedichte Kocbeks von politischen Zeitzeugen des Partisanenkampfes und Opfern der Nachkriegssäuberungen bis zur Großstadtlyrik Svetlana Makarovičs (geb. 1939) sowie zur emanzipatorischen Poetik Ifigenija Simonovićs (geb. 1953) und der engagierten Lyrik Boris A. Novaks (geb. 1935) während des Bosnienkrieges. Es darf angenommen werden, dass eine derartige Zusammenstellung der Anthologie auch mit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung abgesprochen wurde. Die Herausgeber orientierten sich an der Prämisse, Dichterinnen und Dichter zu berücksichtigen, deren Werk vollständig oder nahezu vollständig vorliegt. Es ist bedauerlich, dass bei einem solchen Konzept die Autorinnen und Autoren der jüngeren Generation nicht berücksichtigt wurden, die zweifellos verdient hätten, ebenfalls durch ein eigenes Kapitel hervorgehoben zu werden. (zum Beispiel Uroš Zupan, Maja Vidmar, Peter Semolič, Tone Škrjanec, Barbara Korun, Cvetka Lipuš und andere). 

Die Auswahl der Gedichte beruht also nicht ausschließlich auf einer historisch-chronologischen Auflistung der Autorinnen und Autoren: Abgesehen von der Auswahl der sechzehn zentralen Dichterinnen und Dichter haben die Herausgeber eine innovative Anordnung der übrigen Dichterinnen und Dichter vorgenommen, die sich von den gängigen Anthologien unterscheidet. Die Auswahl der Gedichte erfolgt nämlich nach zentralen Themen der slowenischen Lyrik. Die Gedichte wurden in zehn Kapitel unterteilt: wasser & erde, revolte & kampf, zeit & geschichte, wort & schweigen, stadt & zuhause, gott & danach, verwandtschaft & nähe, grenze & unterwegs, tiere & pflanzen und du & ich. Die Herausgeber postulieren dabei, dass die slowenische Lyrik „nicht nur als historische Abfolge, sondern auch als ein Gespräch über die Zeit hinweg“ (S. 270) verstanden werden kann. Die vorliegende Anthologie vermag diese These zu verifizieren, da sie den Leser in ein Labyrinth des bisher Unbekannten entführt und ihm die Möglichkeit bietet, sich selbst ein umfassendes Bild der slowenischen Lyrik zu machen. In diesem Sinne ist auch die Gestaltung des Bandes als innovativ, kreativ und ansprechend zu bewerten. Die thematische Spannweite der Gedichte umfasst demnach Natur- und Landschaftsbeschreibungen, die tief in der slowenischen Identität verwurzelt sind, existenzielle und philosophische Reflexionen sowie politische und soziale Kommentare. Die Gedichte in diesem Band reflektieren die komplexen Realitäten sowie die reiche Kultur Sloweniens. In den ausgewählten Gedichten manifestiert sich eine bemerkenswerte Fähigkeit der Dichterinnen und Dichter, persönliche Erfahrungen und kollektive Geschichte miteinander zu verweben und dadurch eine tiefere Bedeutungsebene zu schaffen.

Auch die in dieser Anthologie enthaltenen Übersetzungen verdienen besondere Anerkennung. Sie sind, wie bereits erwähnt, zum Teil neu, zum Teil schon älter, und sind sehr gut gelungen. Sie bewahren die sprachliche Schönheit und den rhythmischen Fluss der Originale, was für die Vermittlung der emotionalen und intellektuellen Wirkung der Gedichte von entscheidender Bedeutung ist. Die sorgfältigen Übersetzungen ermöglichen es auch nicht-slowenischen Lesern, die Nuancen und die poetische Kraft der Originaltexte zu erleben. 

Eine Besonderheit des Lyrikbandes sind die biografischen Skizzen zu den einzelnen Dichterinnen und Dichtern (S. 275–286 sowie die begleitenden Skizzen zu den 16 wichtigsten Stimmen der slowenischen Lyrik, denen ein eigenes Kapitel gewidmet ist) und die genauen Quellenangaben, wo die übersetzten Gedichte erschienen sind. Diese Elemente bieten dem Leser einen kontextuellen Rahmen und ermöglichen eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Gedichten. Diese Informationen ermöglichen es dem Leser, die individuellen Hintergründe und literarischen Intentionen der Autorinnen und Autoren besser zu verstehen. 

Die Anthologie der slowenischen Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts Mein Nachbar auf der Wolke kann insgesamt als sehr wertvoll bezeichnet werden. Sie ist sowohl für Liebhaber der Lyrik als auch für Neulinge auf dem Gebiet der slowenischen Literatur eine empfehlenswerte Lektüre. Der Band öffnet ein faszinierendes Fenster in die poetische Welt Sloweniens und zeigt die Vielfalt und Tiefe einer oft übersehenen literarischen Tradition. Darüber hinaus ist der Band eine Einladung zum Lesen und Weiterlesen, eine Einladung zu weiteren Entdeckungen in der slowenischen Poesie. Und es gibt noch viel zu entdecken. In diesem Sinne kann die vorliegende Anthologie als unentbehrlich für all jene bezeichnet werden, die sich zum ersten Mal mit der slowenischen Poesie beschäftigen oder ihre bereits vorhandenen Kenntnisse vertiefen möchten. Die Anthologie bietet darüber hinaus einen umfassenden und facettenreichen Einblick in ein Jahrhundert lyrischen Schaffens und stellt sowohl für die Literatur- als auch für die Kulturwissenschaft eine außerordentliche Bereicherung dar.

Tanja Žigon

Weitere Beiträge zu diesen Themen

Podcast

,,Gute Gedichte sind Zufluchtsorte.“ Christian T. Klein...

von IKGS München
Text

Die innere Au | Alexandru Bulucz: Stundenholz...

von IKGS München
Podcast

Das jüdische Budapest:  Im Gespräch mit Gábor...

von IKGS München