Literarische Abwege. Wilhelm Droste über literarische Cafés und politische Illusionen in Ungarn
von IKGS München
Den Übersetzer, Herausgeber, Publizisten, Caféhausbetreiber, Kulturveranstalter und ehemaligen Dozenten des Lehrstuhls für Germanistik der Eötvös-Loránd-Universität Dr. Wilhelm Droste besuchte Enikő Dácz im März 2025 in seinem zentral gelegenen Budapester Café. Das nach dem Lieblingskaffeehaus von Endre Ady benannte Három Holló/Drei Raben ist in den Räumlichkeiten des Piaristenordens untergebracht und ein der Literatur und Kunst gewidmeter Ort. Das Kulturprogramm, das ein junges Team gestaltet, zu dem mehrere Lyriker:innen gehören, spiegelt die Vielfalt der Budapester Kulturszene von Literatur über Theater, Ballett bis hin zum Film wider.
9. April 2025Der Podcast zum Nachlesen
Spiegelungen: Herzlich Willkommen zu einer neuen Spiegelungen-Podcastfolge. Ich heiße Enikő Dácz und habe heute das Vergnügen und die Freude, mit Wilhelm Droste in Budapest zu sprechen. Er ist unseren Spiegelungen-Lesern aus früheren Heften schon als Autor bekannt. Danke lieber Wilhelm, dass du dir die Zeit nimmst, und wir hier in deinem Café sein können, dazu aber später mehr.
Ein sauerländisches Bauernkind in Budapest
Spiegelungen: Du bist Übersetzer, Herausgeber, Publizist, ehemaliger Dozent an der Germanistik der hiesigen Universität ELTE, Kaffeehausbetreiber, Kulturveranstalter, die Reihe könnte ich noch fortsetzen. Also mit einem Wort, man könnte auch sagen, du bist eine kleine Institution.
Als mir die Idee zu diesem Podcast kam, hatte ich zu viele Themen, worüber wir sprechen sollten, und ich habe kurz gezögert, welches Thema am wichtigsten wäre. Als ich dich dann angefragt habe, hast du nicht nur schnell zugesagt, sondern wir waren uns eigentlich ebenso schnell einig, dass wir uns zuerst über dein deutschsprachiges beziehungsweise dein literarisches Budapest unterhalten. Fangen wir aber von vorne an. Wie bist du hier in Budapest „gelandet“?

Droste: „Gelandet“ bin ich hier, weil ich überhaupt kein Ungar bin, sondern ein sauerländisches Bauernkind und ich wollte meinem Dorf entfliehen und wollte möglichst in Sicherheit einen großen Abstand entwickeln. Weil da war ich der zweite Sohn eines Bauern, und zweite Söhne, die werden im Sauerland entweder Knecht oder Priester. Mit Priester habe ich eine Weile kokettiert, weil ich bis 14 dachte, ich bin von Gott berufen und werde katholischer Priester, und habe Latein und Griechisch gelernt. Mein Patenonkel war Generalvikar von Paderborn, den hätte es sehr gefreut, wenn ich in seine Fußstapfen trete, ach… getreten wäre. Aber dann kam im Grunde genommen die Studentenrevolte, ich war da noch ein bisschen zu jung. Ich bin Jahrgang 1953, aber ich wurde auf der Schule am Gymnasium auch so politisiert, dass ich dann, wie jeder aufrechte Mensch damals, die Welt als Marxist retten wollte. Und dann bin ich eigentlich aus dem Grunde auf eine linke Universität gegangen, nach Marburg. Da gab es die Abendrothschule, und ich dachte, da werde ich ein noch besserer Marxist als ich auf dem Gymnasium schon war. Da hat mich die Politik aber eigentlich frustriert, weil sich damals die Linke in alle möglichen absurden Grüppchen spaltete, irgendwie albanische Kommunisten und chinesische – „keinen kubanischen Zucker in meinen chinesischen Tee“ – also, es war für mich eher politisch desillusionierend.
Ich hatte allerdings das Glück – ich habe Germanistik, Politik und Geschichte studiert, und ich hatte das Glück, dass da großartige Germanisten waren zu meiner Zeit: Gerd Mattenklott, späterer Leiter des Institutes Szondi. Nicht der Leiter, sondern der Gründer, im Grunde genommen. Und bei dem habe ich sehr viel gelernt. Und Ernst Theodor Voss, der hat mich in Goethe verliebt gemacht, was ich nicht gedacht hätte, weil ich immer dachte, Goethe ist eine Katastrophe. Und meine großen Helden, meine literarischen, waren um 1800 herum: Friedrich Hölderlin und Kleist, aber auch Goethe – vor allen Dingen der frühe Goethe – und auch die Frühromantik.
Und dann war das so eine ganz großartige Geschichte. Ich habe auch in Hamburg ein Café gegründet und irgendjemand kam mit der Zeit und da war eine Stellenanzeige: Die suchen einen Lektor für Literatur in Budapest. Diese Annonce war 1988 in der Zeitung. Ich habe mich beworben und diese Stelle bekommen, und war dann der erste oder vielleicht der zweite. Es gab an der Wirtschaftsuniversität schon einen, aber der musste deutsche Sprache vermitteln, was mich nicht interessiert hätte. Ich interessiere mich wirklich nur für Literatur und finde Linguistik eigentlich eher ärgerlich und dann wurde ich hier halt in das wunderbare Glück versetzt: Ich durfte meine Lieblingsautoren auspacken, meine deutschen Lieblingsautoren, konnte den ganzen Tag Deutsch reden. An der Uni wird hier immer noch Deutsch geredet, in der Germanistik, und konnte dann auch die Literatur um die andere Jahrhundertwende um 1900, da hatte ich auch große Vorbilder, nämlich Bertolt Brecht und den Schweizer Robert Walser, den kaum einer kennt, und Hugo von Hofmannsthal. Und dann habe ich 30 oder 35 Jahre ganz intensiv deutsche Literatur gelehrt.
Schmetterlingssprachen und Sammlerleidenschaft
Spiegelungen: Du kannst hervorragend Ungarisch, übersetzt ja auch viel aus dem Ungarischen, und wir kommen darauf sicherlich zu sprechen, aber wann hast du angefangen, Ungarisch zu lernen?
Droste: Mit neun Jahren. Und zwar deswegen …
Spiegelungen: Mit neun? Ich dachte, du hättest erst hier angefangen.
Droste: Nein. Ach ja, ernsthaft habe ich Ungarisch auch hier erstmal überhaupt nicht gelernt, weil ich ein Sprachtrottel bin. Jeder altsprachliche Gymnasiast ist ein Sprachtrottel, denn lebendige Sprachen können wir dann nicht mehr lernen. Wenn man Griechisch, Latein gelernt hat, dann ist man für jede lebendige Sprache unbrauchbar.
Spiegelungen: Naja, ich habe auch Latein gelernt.
Droste: Aber kein Griechisch.
Spiegelungen: Nein, kein Griechisch.
Droste: Wenn das Griechische dazu kommt, bist du endgültig gelähmt für die Gegenwart,aber eben auch prämiert dadurch, dass Griechisch genauso absurd ist wie Ungarisch. Also wenn man schon solche komischen exotischen Schmetterlingssprachen lernt, dann… kommt man auf Abwege, und Abwege haben mich immer sehr interessiert. Wege nicht übrigens, aber Abwege haben mich sehr interessiert. Die E-Mail-Adresse von Gerd Mattenklott war „abwege@berlin“ und das fand ich immer irgendwie …, wenn man ein Glaubensbekenntnis auf ein Wort bringen soll, dann ist es der Abweg.
Spiegelungen: Und wie kamst du dann zum Ungarischen mit neun?
Droste: Als Briefmarkensammler. Also, ich hatte großes Pech: Ich bin neben Dortmund geboren, und wenn man dann kein Fußballspieler ist, dann ist man auch kein Mann. Und ich war ein relativ schlechter Fußballspieler. Kopfballtore mit meinen zwei Metern konnte ich manchmal machen, auch als Torwart war ich ein guter, weil ich einen riesigen Körper habe und das Tor war dann zu, aber als wirklicher Fußballspieler war ich unbrauchbar. Der zweite große Volkssport im Sauerland – Hochsauerland ist mein Kreis – war Skilanglauf. Und dann hat die ungarische Post 1955 eine Briefmarke produziert, auf der ein Langläufer abgebildet war und dann dachte ich, mit neun Jahren: Da bin ich ja auf einer ungarischen Briefmarke und habe mich unglaublich mit diesem Menschen identifiziert, und das hat mir wahnsinnig viel bedeutet. Und die Briefmarke habe ich dann mit einem anderen Bauernkind – der hatte die zufällig – gegen ganz viele deutsche Briefmarken eingetauscht, weil ich irgendwie dachte, das ist so meine Ikone – und dann fing der Fimmel an. Dann stand da drauf „Magyar Posta“, oben „Levél Posta“ und das waren die ersten: „magyar“, „levél“, „posta“ – mein erster Wortschatz.
Spiegelungen: Die ersten wichtigen Wörter hast du somit gelernt. Und hier, als du dann DAAD-Lektor warst, hast du nicht gleich angefangen, Ungarisch zu lernen oder wie kam es?
Das gelobte Land eines Wortgläubigen
Droste: Ja, also … Ich bin ein fanatischer Mensch, ein sehr fanatischer Mensch und… Sammler sind häufig fanatische Menschen, weil sie irgendwie rücksichtslos irgendwas fetischisieren. Das ist bei mir Ungarn gewesen. Und da habe ich mich für alles interessiert, was irgendwie ungarisch ist. Wir hatten eine katholische Zeitschrift, da wurde geklagt über das schreckliche Schicksal der osteuropäischen Katholiken. Es stand da immer, wie Mindszenty und wie die Katholiken leiden, und dann dachte ich, da ist noch was los, da kann man Märtyrer sein, das ist irgendwie ein abenteuerliches Land, mit zehn/ elf/ 12/ 13. Und so sammelte ich immer mehr Argumente dafür, mich auf dieses Land zu konzentrieren. Ich bin auch sehr wortgläubig und ich hatte eine große Faszination vor dem Wort „Ungarn“: ein Land, was ich selbstverneint, nämlich mit „un“, das ist ja eindeutig so, dass das eine deutsche Verneinungssilbe ist – un-keusch un-gehorsam, alles was ich gerne war –, das stand in diesem Namen, und dann dachte ich, das ist mein gelobtes Land.
Spiegelungen: So habe ich Ungarn noch nie betrachtet. Passt eigentlich heutzutage besonders gut.
Droste: Un-möglich.
Spiegelungen: Genau, un-wahrscheinlich und so weiter.
Droste: Un-fassbar
Spiegelungen: Du hast gesagt, du sammelst sehr gerne, und hast aus dieser Liebe für Ungarn, die du entdeckt hast, dann auch die ungarische Literatur für dich …
Droste: Nein, das ist viel später … natürlich viel, viel später. Aber ich kannte dann schon die ganzen Figuren, die waren ja auf den Briefmarken, also die großen Helden der ungarischen Literatur waren mir bekannt: Denn Ady hat sieben Briefmarken in der ungarischen Post, und die habe ich alle dann irgendwie gewählt. Wer ist das? Und dann hat mir das sehr imponiert. Da ist ein Mann, den finde ich sehr attraktiv, der weiß etwas, was ich nicht weiß. Und so entstand eine wirkliche Liebe zu diesem Kopf.
Spiegelungen: Und die erste Begegnung mit Ady erfolgte auch über eine Briefmarke?
Droste: Na, vielleicht ist das ein bisschen übertrieben, das wäre vielleicht ein bisschen zu einfach. Es war etwas komplizierter. Es war so, dass ich dann … Aber dieser Fanatismus, dass mich alles unglaublich interessiert hat, was ungarisch ist … Es gab auch den großen Vorteil, dass ich nicht so gut Fußball spielen konnte, und die Ungarn hatten in den 50er-Jahren die besten Fußballer des Globusses: Puskás … Selbst mein Vater, der ein sehr guter Fußballer war, hatte große Sympathien für diese ungarische Nationalmannschaft und hat gesagt, die hätten gewinnen müssen, ’54. Und das sagt ein Deutscher, ein Wehrmachtssoldat, ein tieftraumatisierter Mensch. Für ganz Deutschland war das ein riesiges Aufatmen, dass die deutschen Weltmeister wurden ’54, und der sagte seinem Sohn: „Wilhelm, die Ungarn hätten gewinnen müssen.“
Der Weg nach Budapest
Spiegelungen: Und der Weg?
Bis nach Budapest ist dann der Weg aus diesem sauerländischen Dorf sehr lang. Wie bist du dann … Du bist als DAAD-Lektor nach Budapest gekommen, hast hier an der Uni gelehrt, hast inzwischen viele Bekanntschaften geschlossen, wann war es eindeutig, dass du doch längerfristig in Ungarn bleibst?
Droste: Na, das war alles ganz langsam, also… Als ich dann links wurde statt katholischer Priester, als ich Marxist wurde, war ich auch auf der Suche nach einem Land, was nicht kapitalistisch ist und trotzdem einigermaßen gut gelaunt. Da war irgendwie völlig klar, dass die Ungarn damals das am besten hinbekommen haben, von den Ostblockländern war Ungarn mit großem Abstand das bestgelaunteste. Man hat dieses hässliche Wort von der „lustigen“ Baracke des Ostblocks erfunden, was mich heute noch beleidigt. Die Ungarn waren weder lustig noch Baracke, die Ungarn waren einfach selbstbewusst, sie waren mutig, sehr interessiert. Sie waren sehr, sehr gastfreundlich. Als ich hierher kam, als jemand, der herumreiste, fand ich jeden Abend eine Familie, die mich adoptiert hätte, so freundlich waren die. Das war aber auch ein großes Abenteuer, denn ich hatte diesen ungarischen Fetisch und war unheimlich ängstlich, dass das Land, wenn ich es bereisen würde, mich völlig enttäuscht. Das passierte aber nicht. Ich habe dann meine Studentenfreunde aus Marburg eingeladen: Ich zeige euch Ungarn, habe so getan, als wäre ich der große Ungarn-Experte. Ich kannte Ungarn überhaupt nicht, aber ich hatte sehr viel über Ungarn gelesen, ich hatte die Hälfte aller ungarischen Briefmarken, ich habe heute fast alle, also ich sammle immer noch – einmal fanatisch, immer fanatisch. Und dann sind wir – meine besten Freunde, meine damalige Geliebte und so weiter – hier zu sechst durch das Land gegondelt.
Spiegelungen: Mit dem Zug …
Droste: Nein, mit dem Auto. Und wir haben dann am Balaton gezeltet und waren in Pécs (dt. Fünfkirchen, Anm. d. Red.), Debrecen (dt. Debrezin, Anm. d. Red.), Sopron (dt. Ödenburg, Anm. d. Red.) und Budapest, da zeigte ich ihnen dieses Land. Und war unglaublich erlöst, nicht enttäuscht zu sein, von gar nichts. Ich fand diese Sprache völlig faszinierend, weil sie komplett unverständlich ist. Aber die Musik, der Vater, …
Spiegelungen: Vielleicht war das ein Vorteil.
Droste: Nein, damals noch nicht. Heute, glaube ich, ist es gut, wenn man kein Ungarisch kann, weil es wirklich erbärmlich ist im Moment, das Land ist in einem erbärmlichen Zustand. Heute ist auch die Begeisterung weg, auch diese irrsinnige Gastfreundschaft ist weg, die Ungarn sind ernüchtert und statt nüchtern zu sein, sind sie betrunken und gehen oft auf völlig falschen Wegen. Und, weil ich immer noch ein ungarischer Fanatiker bin, kränkt mich das sehr. Also ich schäme mich sehr für den gegenwärtigen Zustand des Landes und denke auch deswegen, ich würde hier nie, nie und nimmer das Land verlassen, in so einem Krisenzustand.
Ein ungarischer Missionar
Droste: Bin ich hier existenznotwendig? Ich muss das Land retten, wenn ich damals schon nicht die Welt retten konnte, mit einer marxistischen Revolution. So habe ich heute einen klaren Auftrag: Ich muss Ungarn retten.
Spiegelungen: Also nicht Gott hat dich berufen sozusagen, sondern du hast jetzt eine ungarische Mission und …
Droste: Ja, ich bin ein ungarischer Missionar, ja.
Spiegelungen: Alle Achtung, ich als Ungarin hätte massive Schwierigkeiten in vielen Situationen.
Droste: Kein Blutstropfen von mir ist ungarisch und deswegen bin ich völlig frei.
Spiegelungen: Und ich glaube, das ist tatsächlich ein Vorteil. Also das meine ich jetzt wirklich als Vorteil …
Droste: Ohne Witz.
Spiegelungen: … denn wenn du halt mit einer anderen Vorgeschichte kommst, … man entwickelt schon einen Abstand zu allem. Also ich habe jetzt, glaub ich, inzwischen eine Distanz, die ich als gesund betrachte, dabei bin ich natürlich nicht unbefangen, aber kann mit der Situation besser umgehen. Aber ich hätte Probleme… Aber ich habe auch grundsätzlich keinen missionarischen Impetus. Ich könnte, hätte nicht den Anspruch, jemanden retten zu können.
Droste: Dass ich fanatischer Katholik bin, das ist irgendwie auch … Das ist alles geblieben. Wir sitzen hier in einem Kloster, das merken wir im Moment nicht, aber das Kaffeehaus, mein letztes Kaffeehaus, das Drei Raben-Café oder Három Holló, wie es auf Ungarisch heißt, ist innerhalb des Piaristenordens, den man bei uns nicht kennt, denn bei uns machen katholische Benediktiner gute Gymnasien. Hier waren es die Pianisten, die ganz viele Schulen gegründet haben. Die Piaristen, das sind die klügsten Katholiken, auch die mutigsten und die modernsten, und die haben mich hier in ihren Palast hineingelassen.
Café und Kultur
Spiegelungen: Und wir sind jetzt in deinem Café, im Három Holló/Drei Raben, in der Piaristenecke, sozusagen an der Erzsébet/Elisabeth-Brücke. Das ist dein letztes aktuelles Café, aber du hattest schon vorher mehrere Cafés an unterschiedlichen Orten in der Stadt. Kannst du uns das ein bisschen schildern, wie sich das ergeben hat. Ich habe noch das Glück gehabt, eigentlich mit einer Ausnahme, alle zu kennen, glaube ich.
Droste: Meinst du?
Spiegelungen: Ja, schauen wir mal.
Droste: Mein erstes Café und mein letztes, die gibt es noch. Das erste steht in Hamburg, und das heißt Unter den Linden, das ist im Schanzenviertel von Hamburg-Altona, Sankt Pauli. Da habe ich immer ungarische Wochen veranstaltet, Filme gezeigt, Ausstellungen gemacht. Das ist inzwischen 42 Jahre alt und das gibt es immer noch. Mein bester Freund betreibt es. Es gibt keine ungarischen Zeitungen mehr. Früher konnte man da einen ÈS (Èlet és irodalom/Leben und Literatur, Anm. d. Red.) lesen und sogar einen Népsport (Volkssport, Anm. d. Red.).
Spiegelungen: Gab es denn Leser, also gab es auch Leute, die das auf Ungarisch gelesen …?
Droste: Ja, es gibt … Natürlich gibt es … Ungarn sind überall. Das ist ja bekannt, dass egal wo man hinkommt, man denkt, man spricht eine Geheimsprache und am Nebentisch wird jemand rot, weil er sich ärgert oder weil er sich freut.
Aber dann … Man muss wissen, glaube ich, dass ich zwei Herzkammern habe: In der einen Herzkammer wohnen Hölderlin und Rilke und in der anderen Herzkammer leben die Cafés. Und das treibt mich beides mit gleicher Energie. Also ich bin genauso verliebt in gute Bücher wie …
Spiegelungen: Und Ady ist nicht da?
Droste: … ich habe jetzt nur zwei Namen.
Spiegelungen: Okay, gut.
Droste: Ady ist natürlich extrem, da kommen wir gleich zu nämlich, weil … Das ist das dritte Café. Das zweite Café konnte ich in der ehemaligen Universität der Kommunistischen Partei Ungarns gründen. Die Kommunistische Partei brach zusammen. Ich war ‘89 Lektor und dachte, ich lebe jetzt ewig im Ostblock. Und dann, nach drei Wochen, brach der Ostblock zusammen beziehungsweise der Eiserne Vorhang purzelte herunter, und ich lebte überhaupt nicht mehr im Ostblock, was ich ein bisschen problematisch fand, weil ich … ich liebe unterschiedliche Welten und seit es keine Mauer mehr gibt, sind alle Welten globalisiert, relativ ähnlich.
Spiegelungen: Aber das hier ist ziemlich unterschiedlich zu dem, was zum Beispiel in Deutschland ist. Also, so gesehen bist du jetzt auch …
Droste: Ja, aber auch längst nicht mehr so unterschiedlich wie 1988.
Spiegelungen: Natürlich, ja.
Droste: Ich war dann 1983 hier mit einem Jahresstipendium des DAAD. Der DAAD ist überhaupt meine Amme und von deren Milch habe ich sehr viel gelebt, weil ich als Lektor ein Jahr hier gewesen bin und als … Ich sollte meine Promotion schreiben im Jahr ‘83, da war ich hier, ‘83/‘84. Und später hatte ich 5 Jahre dieses Lektorat an der ELTE in der Germanistik. Also habe ich insgesamt … Dann hatte ich noch ein Zusatzjahr… Ich habe sechs, sieben Jahre vom DAAD gelebt und nicht schlecht, damals wurden Lektorate noch richtig gut bezahlt, vor allen Dingen, wenn man in so komische Länder wie Ungarn ging, weil es dann hieß: Wer sich das antut, der muss entlohnt werden. Und ich wurde reichlich entlohnt.
Das war eine sehr gute Startbasis. Und dann habe ich es geschafft, mein Lektorat praktisch auf 35 Jahre zu verlängern, eigentlich sollten das fünf Jahre sein, dann bin ich aber einfach nicht gegangen.
Spiegelungen: Ja, du bist als Dozent geblieben.
Droste: Na, ich bin als Literaturliebhaber geblieben. Ich habe dann nichts mehr verdient, also wirklich nur noch irgendwie 300€ Euro im Monat. Als Lektor kriegte man damals 5000€ auf die Hand, 10000 D-Mark, und damit musste man sich dann versichern und das war echt eine königliche Existenz. Als Ungar verdiente ich dann nur noch 300, 400€, jetzt kriege ich eine Rente von 500. Das ist auch nicht besonders erfreulich, ich war immer … ich wurde immer weiter gefördert, aber ich hieß, glaube ich, immer Lektor.
‘83 wollte ich meine Promotion schreiben, und die habe ich dann irgendwann beendet, 2010. Also, ich bin kein schneller Typ, aber ich habe sie immerhin vollendet. Also, ich habe hier mein Doktorat gemacht. Eigentlich zu meiner Pensionierung war die Doktorarbeit dann auf dem Tisch, und die ging um Ady und Rilke.
Spiegelungen: Zwischendurch hast du dann auch deine Cafés, deine Übersetzungen …
Droste: Genau, wir waren beim zweiten Café. Das hieß Dürer, weil es in der Albrecht-Dürer-Straße war. Da waren die Germanistik und Anglistik in Budapest. Da hatte die Kommunistische Partei ein ganz großes Eingangsportal gebaut, 500 Quadratmeter groß und das wurde von niemandem genutzt. So habe ich tatsächlich den Direktor der Universität überredet, dass er mich ein Café aufmachen lässt. Da brauchte ich, keine Miete zu bezahlen, und ich wurde auch unterstützt. Ich konnte Bauhaus-Lampen aus den Toiletten der Universität abbauen und ins Café bauen und habe dann Ikea-Lampen in die Toiletten gebaut. Das war eine sehr schöne Zeit, wie ich überhaupt sagen muss, Ungarn ist für mich der ideale Abenteuerspielplatz. Ich hätte in Hamburg nie und nimmer ein so großes Café wie das Dürer in meine Hände bekommen und erst recht nicht ein so gigantisches Café wie das jetzige, die Drei Raben.
Das dritte Café, das war dann schon ein Angebot des Goethe-Instituts. Die wollten ihr Institut öffnen und wollten die Öffentlichkeit über ein Café mit der deutschen Kultur verbinden, was eine großartige Idee ist. Ich finde, kein Kulturinstitut sollte ohne Café gegründet werden. Café und Kultur, das ist einfach im Grunde ein Synonym, für mich jedenfalls. Und die haben davon auch sehr profitiert, weil dann die ganze prominente Intellektualität von Budapest freiwillig ins Goethe-Institut kam, weil sie da Kaffee bekam und weil sie da mit ihren Freunden …
Spiegelungen: Das war auch das Café, das ich schon kannte, also das auf der Andrássy-Straße (direkt an der Oper, Anm.d.Red.). Das erste Budapester Café, das kannte ich nicht.
Droste: Das Dürer.
Spiegelungen: Das andere. Ab da habe ich dann deine Cafés genossen.
Droste: Ja, und da war eben auch Péter Esterházy, Stammgast, und György Konrád. Die kamen dahin und trafen sich da, weil sie die FAZ lesen konnten, sie konnten die Süddeutsche lesen, die Neue Züricher, weil es eben auch das Goethe-Institut war. Und unser Kaffee war besser als der Nachbarkaffee und halb so teuer, weil ich keine Miete zahlen musste. Ich konnte den Markt irgendwie unterbieten.
Spiegelungen: Das kann ich bestätigen. Ich bin ja immer ins Goethe-Institut gegangen als Studentin … Ja, als ich noch klein war, Studentin, Gaststudentin in Budapest. Damals habe ich das eigentlich kennengelernt.

Droste: Und das war ein heiliger Ort für mich. Jetzt nämlich kommt Ady. Ady, mein absoluter ungarischer Lieblingsschriftsteller hatte dort sein Stammlokal, direkt auf den Quadratmetern, die sich das Goethe-Institut angeheuert hatte für ihr Kulturinstitut. Also, die Fläche, die heute oder bis vor kurzem Burberry war, neben Louis Vuitton … das ist auch der Grund, warum das nicht lange gut gehen konnte, denn gegen Louis Vuitton und Burberry hat Goethe keine Chance. Da wurden dann so hohe Mieten gefordert, dass das Goethe-Institut gezwungen war, an einen billigeren Ort umzuziehen.
Schuld ist Joschka Fischer. Joschka Fischer ist schuld, dass dieses wunderbare Gelände verlassen werden musste, weil Joschka Fischer sagte, das Goethe-Institut darf keine Immobilien ankaufen, weil wir mobil sein wollen. Vielleicht wird irgendwann ein Café und ein Kulturhaus in Neu-Delhi viel wichtiger als in Budapest. Und dann haben wir hier so eine dämliche Immobilie, dann sind wir nicht mehr variabel. Das war die Politik von Joschka Fischer.
Wir hatten nämlich ein Angebot. Die Ungarn hätten in Berlin ein riesiges Gebäude bekommen und dann hätten die Goethe-Leute das für immer und ewig als Besitz weiter betreiben können, und das hat der Joschka Fischer nicht unterschrieben.
Spiegelungen: Unfassbar.
Droste: Unfassbar, genau. Deswegen bin ich kein Grüner, sondern ein Linker.
Spiegelungen: Dann ist das Goethe-Institut in die Ráday-Straße gezogen, an einen billigeren Ort, in eine Kultstraße, wo auch mehrere Institute sind. Aber inzwischen ist der Kult vorbei. Der Kult hat sich auch verändert im Vergleich zu den Anfangszuständen. Aber dann gab es ein nächstes Café im Goethe-Institut in der Ráday-Straße.
Cafés als literarische Orte
Droste: Ja, es gab noch eine Zwischenstufe, weil ich mit Händen und Füßen dafür gearbeitet habe: Das Goethe-Institut soll umziehen, aber ich nicht. Weil ich nämlich genau auf der Fläche war, wo Ady seinen Stammplatz hatte, das war das Gasthaus Három Holló/Drei Raben, so hieß das. Und da hat Ady mehr als die Hälfte seiner Budapester Lebenszeit verbracht. Er ging nicht nach Hause, sondern hatte in diesem Gasthof eine kleine Loge. Da konnte er zehn Leute empfangen, aber auch die gerade aktuelle Geliebte. Der war Tag und Nacht in diesem Gasthaus. Wie viele Betriebe in Budapest … Von den 500 Kaffeehäusern, die es mal gab, waren 250 Tag und Nacht geöffnet. Und dieses Gasthaus hatte auch Tag und Nacht geöffnet und war viel billiger – Ady war nie reich – war viel billiger als die Kaffeehäuser. Ady war ein großer Kaffeehaus-Fan, wo er gerade war, in Paris, oder in Oradea/Nagyvárad, oder Prag oder überall … Er war ein totaler Cafégänger. Aber in Budapest saßen schon die ganzen Kollegen im Café, und er wollte sich distanzieren, weil er was Besseres war.
Spiegelungen: Er wollte sich immer distanzieren …
Droste: Er wollte sich immer distanzieren und deswegen hat er sich diesen komischen Laden ausgesucht. Der beste ungarische Prosaautor, Gyula Krúdy, hat ein ganzes Buch darüber geschrieben, wie Ady in diesem Lokal Három Holló/Drei Raben, Tag und Nacht getafelt und gehaust und vor allen Dingen viel geraucht und viel getrunken hat. Er hat sich sehr ruiniert, unter anderem auch mit zu vielen Frauen, er hat einfach zu intensiv gelebt. Und ich fand das so wahnsinnig, dass mein Lieblingsautor auf genau den Quadratmetern sein Leben verbracht hat, an denen ich stand und Kaffee kochte. Das war für mich der Höhepunkt meiner Budapester Glückserlebnisse. Deswegen habe ich das … Ich habe den Keller gekauft, ich wollte bleiben, aber gegen Burberry hatte ich einfach keine Chance.
Aber noch ein Jahr war das Három Holló nach dem Goethe-Institut auf der Andrássy-Straße und parallel entstand schon das Café Eckermann. Das war auch eine Tragödie. Wegen Goethe durfte ich das Café nicht Drei Raben nennen, weil Goethe … das Goethe-Institut sagte: Drei Raben, das sind auf Deutsch völlig melancholische Tiere, wir können da nicht irgendwie so eine Tragödie über unser Institut hängen. Und dann haben sie einen Namen gesucht, der Goethe würdig ist. Dann wurde ich eben für Ewigkeiten der Sklave von Goethe, nämlich Eckermann, der hatte es ja auch nicht einfach, er durfte nicht heiraten, weil Goethe ihn die ganze Zeit als Sekretär betrachtete.
Spiegelungen: Diese Geschichte wusste ich nicht, und ich habe mich auch gewundert, warum es dann nicht mehr Három Holló hieß, warum du den Namen dann geändert hast.
Droste: Goethe selber hätte mich natürlich machen lassen, aber das Institut hat mich nicht machen lassen.
Spiegelungen: Aber jetzt lässt man dich machen …
Droste: Da habe ich aus lauter Wut eine Zeitschrift gegründet, und die hieß dann Drei Raben und die ersten Hefte hießen auch noch Három Holló, obwohl da nur deutschsprachige Beiträge drin sind. Diese Zeitschrift versucht, ungarische Kultur in Ungarn, ungarische Kultur in deutscher Sprache zu vermitteln.
Spiegelungen: Und ich habe jetzt gerade das aktuelle Heft sozusagen …
Droste: Ja, leider zwei Jahre alt, aber immer noch aktuell.
Spiegelungen: Es erscheint ziemlich unregelmäßig. Das aktuelle Heft, weil ich es gerade hier habe, ist Esterházy gewidmet. Deine Cafés sind wirklich auch literarische Orte. Es begegnen sich aber nicht nur Literaten vor Ort, sondern es gibt ganz viele Veranstaltungen, es gibt auch deutschsprachige Veranstaltungen. Wie ist das, wie macht ihr das?
Café als Kulturinstitut
Droste: Doch, es gibt deutschsprachige Veranstaltungen. Sogar relativ häufig, weil ich schon versuche … Ich habe eben diese zwei oder drei Cafés für das Goethe-Institut gemacht und das dritte für den deutschen Lehrstuhl. Ich habe dabei immer versucht, die deutsche Kultur hier in diesen Cafés aufleben zu lassen. Auf der Andrássy-Straße gab es ein philosophisches Café, jeden vierten Sonntag, da kamen immer deutsche Gäste, und haben über alles Mögliche geredet. Ich habe natürlich auch alle Angebote vom Goethe-Institut gerne genutzt, dass Leute lesen und diskutieren.
Und das war ein heftig deutschsprachiges Kulturinstitut. Auch das Café auf der Andrássy-Straße, weil es eben 50 deutsche Zeitschriften, Zeitungen und so weiter zu lesen gab. Das war ein großer Luxus und jeder, der Deutsch konnte … Und die alte Bevölkerung in Budapest sprach eigentlich Deutsch. Heute hat man bei allen Leuten über 50 noch eine Chance, aber unter 50 sprechen die nur noch Englisch.
Spiegelungen: Wobei, in deinem Café ist es ja anders. Gestern haben wir auch junge Leute getroffen, mit denen du dich auf Deutsch unterhalten hast. Also sammelst du die Deutschsprachigen, muss man dazu sagen. Unter deinen Mitarbeitern ist die deutsche Sprache jetzt kein Exotikum.
Droste: Aber exotischer als die englische, die können alle Englisch und fünf von den 30 Leuten hier können Deutsch.
Spiegelungen: Kannst du uns ein bisschen was zu diesen 30 Leuten erzählen? Wer sind sie, aus welchen Bereichen kommen sie, und kannst du ein bisschen schildern, wer das Programm macht? Ihr habt hier einen tollen Kellerbereich und einen ganz großen Saal, einen Theatersaal. Da sind auch große Veranstaltungen. Wie kommt das zustande? Es ist ein sehr vielfältiges Programm von Theater bis Lesungen, es gibt ganz unterschiedliche Angebote.
Droste: Es gibt wirklich sehr unterschiedliche: Volkstanz, Ballett, Chöre … Also es gibt wirklich fast alles, aber es gibt ein ganz gutes Kinoprogramm, jetzt zum Beispiel eine lange Reihe Herzog-Filme, das Lebenswerk von Herzog wird jetzt an zehn Abenden vorgestellt.
Spiegelungen: Wer ist zuständig für das Kinoprogramm, zum Beispiel?

Droste: Früher habe ich meine ganzen Mitarbeiter immer am deutschen Lehrstuhl geangelt. Da habe ich aus Studenten Cafébetreiber gemacht, zum Teil zum Ärger der Eltern, weil die wollten, dass sie Lehrer werden, und dann verkauften die plötzlich nur noch Bier und Kaffee … Das galt als soziologischer Abstieg. Aber die meisten, die hier arbeiten, haben auch irgendwas anderes im Sinn. Die studieren alle, meistens geisteswissenschaftliche Fächer. Es gibt viele Leute, die versuchen, Filme zu machen, die versuchen, Musik zu machen, die versuchen, selber zu schreiben. Im Moment sind hier fünf junge Leute, die Lyrik schreiben, das heißt ungarische Lyrik schreiben und veröffentlichen. Und es gibt eine Zeitschrift, die im Internet entsteht, Nincs. „Das gibt es nicht“ übersetzt … Ich weiß nicht, wie würdest du „nincs“ übersetzen? Ist ja nicht so einfach, die ungarische Sprache …
Spiegelungen: Puh … „Gibt’s nicht“ kann man nicht sagen.
Droste: „Gibt es nicht“. Ja, aber das sind junge Leute, die machen eine Internetzeitschrift und die machen sie hier, redigieren sie hier. Es sind immer noch Germanisten dabei, eben die Älteren, die über Dreißigjährigen. Mein allerwichtigster Kompagnon, der nicht nur mein Kompagnon ist, ich bin auch sein Kompagnon, der betreibt das Ganze hier, trägt es auf seinen Schultern. Er war einer meiner Lieblingsstudenten, den habe ich dann wirklich umgeschult. Er lebt eigentlich von Synchrondolmetschen, dolmetscht Deutsch, Englisch, Ungarisch für Audi und so, davon lebt er. Er ist derjenige, der hier im Grunde das Ganze zusammenhält. Er ist der Chef. Und dadurch, dass er eben auch eine so enge Verbindung zum Deutschen hat, weil er eben auch Germanistik als Fach beendet hat, hat er auch immer noch sehr viele Beziehungen zum deutschen Lehrstuhl. Und dann kommen die noch jüngeren Leute, die kommen jetzt schon wegen der jungen Leute.
Spiegelungen: Das ist quasi die Germanistik-Schiene. Aber es gibt auch eine filmische Schiene, die hier wahrscheinlich hineinfließt, so wie ich spekuliere. Habt ihr auch Leute von FREE SZFE zum Beispiel, die hier aushelfen? Das würde ich mir vorstellen.
Droste: Ganz massiv, ja. Natürlich, wir sind, wenn man so will, auch ein Zentrum von dieser …
Spiegelungen: Kannst du das ein bisschen erörtern? Es ist authentischer, wenn du das sagst.
Die Kulturarbeit eines „Missionars“
Droste: Da werde ich mein aktuelles Problem mit einbauen: Hier wurde eine sehr gute Film- und Theaterhochschule/ Universität aus politischen Gründen geschlossen. Praktisch wurden alle Liberalen, alle Linken, alle Begabten verjagt, und die Regierungspartei Fidesz hat die Stellen mit relativ mäßig begabten Leuten besetzt.
Spiegelungen: Das ist sehr diplomatisch gesagt, füge ich hinzu.
Droste: Ich versuche ja auch mal, diplomatisch zu sein. Also sie haben wirklich nicht nur an der Stelle … sondern auch die CEU haben sie vertrieben, die ebenfalls ein hohes Niveau hatte, und jetzt nach Wien geflohen ist.
Spiegelungen: Wo ich auch gearbeitet habe. Also spätestens zu dem Zeitpunkt hätte ich massive Existenzprobleme bekommen.
Droste: Die Regierung hier hat einen guten Geschmack. Alles, was gut ist, wird vertrieben. Und die Leute, die vertrieben worden sind, haben dann allerdings mit viel, viel Eigeninitiative im Grunde genommen eine Untergrund-Universität betrieben. Und gar nicht mal so sehr im Untergrund, sondern sie haben versucht, sich mit ganz vielen Hochschulen, Filminstituten und so weiter international zu verbinden, auch in Wien, auch in Salzburg, in Polen sogar.
Spiegelungen: Die vergeben auch ganz normal Diplome.
Droste: Genau. Dann haben sie ihre Studenten sozusagen mit Diplomen versorgt, die dann aber in Polen ihre Stempel bekamen. Diese Bewegung gibt es immer noch, und die macht sehr viel in unseren Räumen. Das Problem ist: Der katholische Orden, in dem wir uns hier befinden, hat die besten Beziehungen zur Regierung, weil die Kirchen mit Geld zugeschüttet werden. Die Regierung behauptet nämlich, christlich zu sein, was, finde ich, mehr oder weniger die größte Lüge Ungarns ist. Weil ich mir keinen größeren Antichristen vorstellen kann als unseren Führer.
Spiegelungen: „Führer“ bitte in Anführungszeichen.
Droste: Nein, nicht in Anführungszeichen. Die kriegen sehr viel Geld und wollen ihre Beziehungen nicht kaputt machen. Wir wiederum, weil wir hier in diesem Klostergebäude sind, haben einen Vertrag unterschrieben, dass wir die Interessen der katholischen Kirche nicht verletzen. Wir dürfen keine Schwulenveranstaltungen machen, keine lesbischen Veranstaltungen.
Spiegelungen: Das hast du unterschrieben?
Droste: Das habe ich unterschrieben, das war der Preis, dafür sitzen wir hier.
Spiegelungen: Ja, in sehr schönen Räumlichkeiten …
Droste: Wunderbar! Also wir sitzen hier im Himmel, aber ich musste ein bisschen mit der Hölle Verträge schießen.
Spiegelungen: Ihr habt hier wirklich ganz große Räumlichkeiten, auch unten. Also man muss sagen, wenn man für so ein Gebäudeteil wirklich Miete zahlen müsste, also die Miete, die man auf dem Markt bezahlt, dann würde man das eigentlich mit einem Café nicht stemmen.
Droste: Unsere Gäste sind alle jung und alle jungen Leute in Ungarn haben kein Geld. Die verbringen ihre Abende, ihre Nachmittage hier, aber mehr als einen Kaffee und zwei Mineralwasser können wir meistens nicht verkaufen. Deswegen ist es ökonomisch alles andere als leicht, dass wir hier überleben. Aber es gibt eben auch viele andere Leute, auch viele, die nicht aus Ungarn sind, also Kulturtouristen. Von denen gibt es noch relativ viele, die nicht am normalen Tourismusprogramm interessiert sind, sondern hierher kommen und forschen und was wollen.
Spiegelungen: … Und die von der OSZK (Nationalbibliothek, Anm.d.Red.) herunterkommen, um hier einen Kaffee zu trinken.
Droste: Genau, es gibt viel Kulturvolk und das trifft sich auch bei uns. Diejenigen, die älter sind, haben auch Geld und die können sich eine Flasche Sekt leisten und dann geht es uns gut.
Spiegelungen: Können wir da ein bisschen drauf zurückkommen? Du hast gesagt, jetzt habt ihr deswegen gerade Probleme. Was heißt das bezüglich der katholischen Kirche zum Beispiel?
Droste: Wir haben uns mit der FREE SZFE solidarisch erklärt, das ist die Freie Hochschule für Theater und Film. Und das ist natürlich eine Kampferklärung an die Regierung. Das haben wir in unsere Schaufenster getan und uns eben solidarisch erklärt. Damals gab es diese Streifen, diese Bauzaunstreifen, ich weiß nicht, wie man die nennt, damit haben wir unsere Kaffeeausfenster dekoriert. Dann kamen die Mönche und sagten, das dürft ihr nicht tun, weil das unser Geldgeber ist. Wir müssen diplomatisch gute Beziehungen zur Regierung haben, wir sind von denen finanziell abhängig. Da haben wir uns sehr gestritten, weil meine Frau als Filmemacherin rausgeschmissen wurde.
Spiegelungen: Deine Frau ist Ildikó Enyedi, sie ist eine der bekanntesten Filmemacherinnen aus Ungarn, u. a. auch mit dem Goldenen Bären und vielen anderen Preisen ausgezeichnet, damit man weiß …
Droste: … und sie war Professorin an dieser liberalen und guten Filmhochschule.
Spiegelungen: Ist sie da nicht mehr tätig?
Droste: Ja, die wurde rausgeschmissen.
Spiegelungen: Nein, nein. Ich meine bei der FREE SZFE.
Droste: Doch klar, ja. Also, die FREE SZFE hat ein unglaubliches Niveau, aber hat überhaupt kein Geld.
Spiegelungen: Ja, aber sie ist weiterhin da tätig? Ich dachte jetzt für eine Sekunde, sie wäre da nicht mehr engagiert, aber sie ist da weiterhin?
Droste: Jaja.
Spiegelungen: Also sie ist da mitunter eine der Trägerinnen, die das mitmachen.
Droste: Genau, ja. Sie war eine der ersten, die dann auch gesagt haben, unter den Bedingungen wollen wir nicht weiterarbeiten, sich gegen diese politische Oktroyierung gewehrt hat, und dann war das schnell vorbei. Damit hatte sie ihre Stelle, ihre Pension und alles verloren.
Spiegelungen: Was habt ihr dann gemacht, als die Mönche kamen und gesagt haben: So, das verstößt eigentlich gegen unsere Interessen?
Droste: Als der Konflikt da war, haben wir alles hängen lassen. Wir haben diesen Konflikt überlebt. Wir haben den Protest in den Schaufenstern gelassen, weil ich gesagt habe, ich kann doch nicht gegen meine eigene Frau arbeiten, das geht doch nicht. Ich muss mich doch mit meiner Frau solidarisieren als Katholik, wie soll ich das hinbekommen, das hat sie so ein bisschen …
Spiegelungen: Und als Katholik berufen, als Ungar berufen, wie soll das gehen?
Droste: Als Missionar, genau, und das hat ein bisschen gezogen. Dann hat man uns in Ruhe gelassen und gesagt, gut, nicht so schlimm. Aber inzwischen auch immer mehr, und das ist für mich eigentlich das Allerschönste, was ich hier erlebe … Mehr und mehr der Mönche, die es hier gibt, und die Lehrer, die im Katholischen Gymnasium sind – das war immer eines der niveauvollsten Gymnasien des Landes, wer da früher Abitur machte, wurde Professor, heute ist es nicht mehr ganz so gut. Zum Beispiel Ildikós Vater hat hier Abitur gemacht und wurde Professor, also da … die mehr und mehr sagen, was ihr hier macht das ist beste Kulturarbeit. Deswegen lassen wir euch. Also wir haben mehr oder weniger Frieden geschlossen, mit immer wieder, ab und zu Konflikten, aber eben Frieden. Und der Frieden ist mir … Also es gibt ja, es gab ja einen sehr, sehr klugen Mönch, den István Jelenics der gut befreundet war mit János Pilinszky, dem großen Lyriker im alten Ungarn.
Spiegelungen: Dichter im 20. Jahrhundert, damit unsere Hörer ihn einordnen können.
Droste: Ja, im 20. Jahrhundert war er der „große Kopf“ der ungarischen Lyrik.
Spiegelungen: Er war nicht nur der „große Kopf“ der ungarischen Lyrik, sondern er war dann auch für seine Glaubenslyrik bekannt. Er gehört bis heute eigentlich zu den bekanntesten Lyrikern, die einen religiösen Hintergrund haben.
Droste: Genau. Und der schützt uns auch irgendwie. Nämlich als der Jelenics, dieser sehr Kluge, der mit über 90 Jahren jetzt gestorben ist – er hat sehr kluge Bücher über Lyrik und Literatur geschrieben – ihn haben wir auch sehr verehrt und immer eingeladen auch, dass er hier Vorträge hält über Pilinszky, über Ady. Der hat mir zum Beispiel erklärt, dass Ady einmal ein Piarist gewesen ist, nämlich im heutigen Rumänien, da gab es mal eine Zeit, wo er auf einer piaristischen Schule war. Da hat er für ein paar Monate gedacht, er wechselt vom Protestantismus oder Calvinismus zum Katholizismus, aber das war dann auch nur ein Flirt mit dem Katholizismus. Er hat dann…
Spiegelungen: Hätte nicht gepasst.
Droste: Es hätte auch auf lange Sicht nicht gepasst, nee.
Spiegelungen: Zu Ady, weißt du, wir haben schon darüber gesprochen … Zu Ady hab ich eine ganz besondere Beziehung aus dem Grunde, dass ich aus der Stadt stamme, die ihn, wie er das sagt, geprägt hat: „aki vagyok, az négy zilahi esztendő által vagyok …“ [Anm. der Red. „wer ich bin, das bin ich durch vier Jahre in Zillenmarkt“]
Droste: Wie spricht man eigentlich diese Stadt? „Zilah“?
Spiegelungen: „Zillenmarkt“ auf Deutsch, aber auf Ungarisch ist es „Zilah“, „Zalău“ auf Rumänisch, da ist er ja vier Jahre ins Gymnasium gegangen.
Droste: Begeistert eigentlich, weil er sagt, die Stadt hat ihn entscheidend geprägt.
Spiegelungen: Genau. Und in der Stadt bin ich aufgewachsen. Also, ich bin wirklich wortwörtlich mit Ady aufgewachsen.
Droste: In der gleichen Luft.
Spiegelungen: Na, zumindest in der gleichen Stadt. Wobei nicht mal die Kulisse stimmte, weil inzwischen alles umgebaut und zerstört wurde. Aber dieser Geist von Ady ist bis heute in der Stadt eigentlich was Besonderes. Als ich das erste Mal von dir gehört habe, war das Erste, was ich über dich wusste, dass du Ady übersetzt hast.
Droste: Ja, das ist es ist wahrscheinlich auch… Und auch, dass der Name dieses heutigen Cafés das Allerbeste und Schönste ist, was ich je gegründet habe, das ist irgendwie auch beruhigend, dass das erste und letzte immer noch existieren. Weil die anderen waren alle auch dem Verfall, mehr oder weniger verpflichtet, weil eben Goethe nicht so viel Geld mehr hatte und weil die Universität, die Germanistik dauernd umzog. Am neuen Ort, in der Rákóczy-Straße, konnte ich kein Café mehr gründen. Das hat mich schon sehr gekränkt, weil ich dachte, ich werde auf Ewigkeiten das Café zur Germanistik betreiben. Und das gibt’s nicht mehr. Dafür aber locke ich die Germanisten gerne hierhin.
Spiegelungen: Das würde ich auch sagen. Also der Weg ist nicht so weit.
Droste: Nein, 570 Meter.
Spiegelungen: Die brauchen also… So genau hätte ich das nicht gewusst.
Droste: Ich auch nicht. Ich habe jetzt gelogen.
Spiegelungen: Ach so, ich dachte zehn Minuten vielleicht zu Fuß, oder 15, oder so.
Droste: Nein, für Gesunde. Für mich einen Tag.
Spiegelungen: Also das ist halt wirklich ein kurzer Spaziergang und hier kann man sicherlich auch viele … Ich bin sehr selten da, ich habe jetzt keine Germanisten hier getroffen, aber wahrscheinlich kommen die auch mal vorbei. Das ist auch ein Treffpunkt. Es ist gut zu hören, dass ihr einen Kompromiss gefunden habt mit den Piaristen.
Abschließend würde ich auch gerne wissen, was deine übersetzerischen Pläne sind. Du bist ja nicht nur Kaffeehausbetreiber – und wir könnten hier über Három Holló ganz lange sprechen –, aber vielleicht noch ein nächstes Mal dann Näheres zum Programm. Es würde mich abschließend doch ein bisschen interessieren: Kommst du jetzt noch zu Übersetzungen? Woran arbeitest du?
Literarische Übersetzungen
Droste: Das habe ich falsch eingeschätzt, weil ich dachte, wenn ich pensioniert bin, werde ich ein Übersetzer. Ich hatte immer größte Probleme, weil ich nie wusste, was bin ich eigentlich, weil ich so viele Dinge gleichzeitig gemacht habe. Und ich dachte, dann sitze ich im Café und mache ganz, ganz ausgeruht und ausgeglichen Übersetzung. Stattdessen liege ich dauernd im Krankenhaus, weil alle Knie inzwischen ersetzt worden sind, ich zuckerkrank bin, mein Rücken nicht funktioniert und so weiter und so weiter… Und die Kräfte sind so irrsinnig klein, dass alle meine Pläne, die im Kopf sehr lebendig sind, die kann ich eigentlich nur noch in Gedankenstrichen selbst ernst nehmen.
Was ich eigentlich unterschrieben habe, das müsste ich schon seit zwei Jahren abgegeben haben. Das ist für die Berliner oder Potsdamer, für das… wie heißt das Institut?
Spiegelungen: DKF. Deutsches Kulturforum östliches Europa.
Droste: Genau, Deutsches Kulturforum. Also ein Budapest-Lesebuch machen, eine letzte Liebeserklärung an meine Heimatstadt Budapest mit Literatur. Eigentlich wären meine Texte nur so kleine Verbindungen zwischen verschiedenen Literaturzitaten. Und dieses Buch habe ich zu einem Drittel fertig geschrieben, und die zwei Drittel muss ich dann immer wieder absagen, weil ich jetzt zum Beispiel in den letzten zwei Jahren nicht mal lesen konnte, also nicht schreiben, übersetzen, nicht mal lesen konnte ich, weil ich mit so vielen Schmerzen zu tun hatte. Und jetzt muss ich sie bitten, dass sie mir nochmal vielleicht irgendwie eine Zeit einräumen, eine Überziehung, also … Deadlines, sind für mich irgendwie ganz … die halte ich grundsätzlich offensichtlich nicht ein. Also, das wäre so ein großes Buch. Dann würde ich sehr gerne von Sándor Weöres mehr irgendwie noch in die Welt setzen. Er hat ein schönes Buch mit kleinen Texten A teljesség felé/Der Ganzheit entgegen. Das kleine Büchlein würde ich gern bei Suhrkamp veröffentlichen. Das ist ein Plan, den ich auch eigentlich… Die Übersetzung ist eigentlich fertig, ich müsste nur noch mal richtig ran. Und wenn die Kräfte wiederkommen, …
Spiegelungen: Was wir hoffen, was wir dir wünschen…
Droste: In Kirchen wird gebetet, auch hier direkt neben uns die alte Pester Pfarrkirche. Also Gott ist wirklich hier sehr präsent auf dem Gelände, wo wir uns befinden. Also das wäre eine zweite Geschichte. Dann würde ich sehr gerne … Ich habe wirklich Lieblingsautoren, wie zum Beispiel Anna Terék, von der würde ich gerne nicht nur viel hier präsentieren in Veranstaltungen, sondern eben auch noch übersetzen. Von János Térey habe ich angefangen zu übersetzen, das Budapest-Buch ist auch erschienen. Überschreitungen heißt es auf Deutsch, Budapester Überschreitungen. Von dem würde ich gerne noch mehr machen.
Ich hätte Riesenlust, ein großes Buch von Ernő Szép zu übersetzten. Von dem gibt es ab und zu was auf dem deutschen Buchmarkt, aber nicht genug.
Was mich immer sehr interessiert, ist diese jüdisch-ungarische Symbiose, in der ich insofern sehr stark präsent bin, als dass in Budapest 95% aller Kaffeehausbetreiber Juden waren. Insofern bin ich ein Jude. Also, insofern trete ich da in eine jüdische Tradition. Meine Frau hat auch jüdische Wurzeln, meine Freunde, mein Mann, der hier die große Betriebsleitung macht, ist jüdisch. Georg Lukács war für mich immer… Der frühe Georg Lukács war für mich immer ein Grund, warum ich hierher gegangen bin, weil mich das interessierte, wo er gewohnt hat und so weiter. Peter Szondi ist ein riesiger Literaturversteher und Freund von Celan.
Also es gibt lauter … Ich wundere mich eigentlich, dass … Die Budapester Juden hatten das Glück, dass der ganze Transport nicht mehr funktionierte. Deswegen haben viele Budapester Juden überlebt. Deswegen ist Budapest vielleicht die Stadt, in der intellektuell vielleicht noch die deutlichste Präsenz von jüdischer Kultur spürbar ist.
Spiegelungen: Über das Jüdische in Budapest haben wir, hat meine Kollegin mit Gábor Schein gesprochen, als er bei uns Fellow war. Da hatten wir zwei Podcastfolgen über das jüdische Budapest.
Wie man hört, hätten wir eigentlich ganz viele Themen, über die wir noch sprechen könnten. Ich hoffe, dass wir bei einer anderen Gelegenheit auch die Möglichkeit haben, ein bisschen tiefer in einige Themen einzusteigen. Aktuell wünsche ich dir alles Gute für deine Pläne, du hast ja sehr viele, und ich hoffe, du findest dann hin und wieder auch mal Zeit, wieder was für die Spiegelungen zu machen.
Wir haben vorhin darüber gesprochen, wie wir die Kontakte, wenn es dir gesundheitlich wieder gut geht, intensivieren könnten. Wir fangen sozusagen mit kleinen Schritten an, indem wir die Spiegelungen hier in Három Holló präsent machen, aber wir können auch in anderen Sachen gemeinsam weiterdenken.
Ich bedanke mich ganz, ganz herzlich für deine Zeit und dass du dir relativ spontan Zeit genommen hast für das Gespräch und natürlich für die guten Kaffees. Ich freue mich, wenn wir das Gespräch noch fortsetzen können.
Droste: Gerne, gerne, gerne.