Liebe Mutter, nur nicht den Kopf verlieren, wie viele tausende von Menschen sind vom selben Schicksal getroffen. Gott wird uns nicht verlassen. Es ist ja ausgeschlossen, dass es für die Dauer so bleiben kann.“ Westerengel, den 29. Oktober 1946

Diese Zeilen hat meine Oma Elvira Aloisia Krätschmer 1946 in einem Brief an ihre Mutter, die in Hessen lebte, verfasst. Sie sollten Trost spenden in einer Zeit der Trostlosigkeit. Seit über zwei Jahren hatten sie sich nicht mehr gesehen. Als meine Oma 19 Jahre alt war, hat sie ihre Heimat Klein Mohrau, dem heutigen Malá Morava in Tschechien, verlassen. Auf einem Hofgut im thüringischen Westerengel ging sie in die Lehre zur Hauswirtschafterin. Dadurch ist ihr das Schicksal, das ihre Familie erfahren hat, erspart geblieben:

  • der Einzug der sowjetischen Truppen
  • die Vertreibung aus ihrer sudetendeutschen Heimat
  • die Zuweisung eines neuen Zuhauses in einem für sie fremden Teil Deutschlands.

Vertreibung aus der alten Heimat

Flucht und Vertreibung überschatteten das Kriegsende. Sicherlich kennen Sie die Bilder der Flüchtlingstrecks nach dem Zweiten Weltkrieg: Sie kamen aus dem Osten. Auf der Flucht vor der Roten Armee. Oft bei Eiseskälte. Scharen von Menschen. Enteignet, gedemütigt, vertrieben, verzweifelt. Sie kamen auf Pferde- und Ochsentrecks, in Vieh- und Güterwaggons, zu Fuß oder per Schiff über die Ostsee.

Ihre letzten Habseligkeiten im Gepäck. Auf ihrer Flucht konnten sie oft nur das Nötigste mitnehmen. Manchen blieb bloß das nackte Überleben. Bis zu 14 Millionen Vertriebene und Flüchtlinge strömten in das verbliebene Deutschland der Nachkriegszeit.

Auch die Familie meiner Oma hatte mit dem Vormarsch der Roten Armee ihre Heimat in Mähren-Schlesien von heute auf morgen verlassen müssen. Zurück ließen sie Hof, Hab und Gut. Ihre Wurzeln. Meine Oma wusste, dass ihre Eltern und ihre vier Geschwister trotz allem, was sie durchleben mussten, noch Glück hatten. Sie waren mit dem Schrecken davongekommen. 

„Gewiss ist es sehr traurig für uns, dass wir aus unserer Heimat gehen mussten und ganz arm geworden sind. Wir können aber froh sein, dass wir noch alle gesund zusammen sein können.“ 

Bahnhof in Klein Mohrau

Vielen Vertriebenen erging es weitaus schlechter. Sie bekamen die Rache der Sieger zu spüren: Demütigungen, Misshandlungen, Vergewaltigungen und schlimmstenfalls Mord. Mindestens zwei Millionen Menschen überlebten die Strapazen und Gewaltakte vor und während der Flucht nicht, darunter geschätzt 270 000 Sudetendeutsche. Etwa zweieinhalb Millionen Deutsche blieben in ihrer alten Heimat. Dort waren sie zum Teil heftigen Repressionen ausgesetzt. Mehrere Hunderttausend wurden in Lagern inhaftiert oder mussten Zwangsarbeit leisten.  

Im Winter 1944/45 waren die ersten Trecks vor der russischen Front in Ost- und  Westpreußen, Pommern, Schlesien sowie dem Sudetenland in Richtung Westen aufgebrochen. Die Masse der Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten kam allerdings erst nach Kriegsende. Meine Oma vermutete, dass es ihnen besser ergangen sei: 

„Und wie ich oft schon gehört habe, konnten die Flüchtlinge, welche jetzt erst ausgewiesen wurden, allerhand Sachen mitnehmen, während die Ersten alles im Stich lassen mussten und ohne einen Pfennig Geld, nur das was sie am Leibe hatten, heraus mussten. Auch das wurde ihnen manchmal zum Teil am Wege weggenommen.“ 

Die Potsdamer Konferenz setzte den „wilden Vertreibungen“ im August 1945 ein Ende: Die Siegermächte beschlossen die „humane und ordnungsgemäße Umsiedlung“ aller Deutschen aus Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei. Andernfalls drohten Sanktionen. Doch „human und geordnet“ ging es auch weiterhin nicht zu. In der neuen Heimat erlebten die Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten häufig Ablehnung durch die Einheimischen. Ihr Alltag war bestimmt von der Suche nach:  

  • Obdach,  
  • Nahrung,  
  • Familienangehörigen  
  • und einer neuen Heimat. 

Zuflucht finden Heimatvertriebene in den vier Besatzungszonen 

Nach Kriegsende machten die Vertriebenen in den vier Besatzungszonen zwanzig bis fünfzig Prozent der örtlichen Bevölkerung aus. Willkommen waren sie allerdings nicht. Das Deutschland, in das sie kamen, war ihnen fremd. In den ausgebombten Städten war kein Platz. Die Mehrheit wurde deshalb aufs Land geschickt, vor allem in strukturschwache Gebiete. In der für sie fremden Umgebung waren sie auf das Wohlwollen der einheimischen Bevölkerung angewiesen. Die Besatzungsmächte hatten die Flüchtlinge in ihre Wohnungen und Häuser zwangseinquartiert. Manchmal auch unter Androhung von Gewalt. 

Wie rund 14 Millionen Deutsche aus Ost- und Westpreußen, Pommern, Schlesien und dem Sudetenland suchten auch meine Urgroßeltern Zuflucht im besetzten Nachkriegsdeutschland. In der amerikanischen Besatzungszone fanden sie schließlich ein neues Zuhause. Die zuständige Behörde quartierte sie bei einem eingesessenen Großbauern und Viehhändler im mittelhessischen Grüningen, im Landkreis Gießen, ein.  

In ihrer Heimat im deutschen Landkreis Mährisch Schönberg, einem Ort mit landwirtschaftlichem Charakter, hatten sie ihren eigenen kleinen Bauernhof bewirtschaftet. Nun verdingten sie sich als Landarbeiter für andere. Gemeinsam mit ihren beiden Söhnen Franz und Ernst wohnten sie in einem kleinen Zimmer. Später zogen auch noch meine Oma und mein Opa, ein Flüchtling aus Repten in Oberschlesien, darin ein. 

In den ersten Jahren nach dem Krieg ging es den Ortsansässigen oft nicht viel besser als den Heimatvertriebenen. Hunger, Kälte und Repressalien der Besatzer bestimmten auch ihren Alltag. Die Flüchtlinge empfingen sie entsprechend rau. Ihre Anwesenheit erinnerte sie an den verlorenen Krieg. Misstrauen und gegenseitige Abneigung zwischen den Alteingesessenen und den ungebetenen Gästen waren geprägt von: 

  • dem engen Zusammenleben,  
  • der Lebensmittelknappheit,  
  • den Abhängigkeitsverhältnissen 
  • sowie einer unsicheren Zukunft. 

Auch meine Oma wusste von feindseligen Erfahrungen aus Thüringen zu berichten. In dem Brief an ihre Mutter schrieb sie: 

„Glaub nur nicht, dass die Flüchtlinge hier so gut behandelt werden.“ 

Der Alltag in den Besatzungszonen war von Fremdheit bestimmt. Die Vertriebenen waren anders. Sie hatten einen fremden Dialekt, kulturelle Eigenheiten, eine andere Küche, Mentalität und Konfession. Oft wurden sie von ihren eigenen Landsleuten wie Fremde behandelt. Viele blieben deshalb lieber unter sich. 

Konflikte und Ressentiments zwischen Angekommenen und Alteingesessenen prägten auch die nachfolgenden Generationen. Nur langsam bauten sich die Spannungen ab. Gründe dafür waren: 

  • die staatliche Unterstützung,  
  • der gemeinsame Schulbesuch,  
  • untereinander geschlossene Ehen  
  • und der wirtschaftliche Aufschwung, zu dem die Flüchtlinge maßgeblich beigetragen hatten. 

 

Meine Oma Elvira Aloisia Giolbas, geb. Krätschmer, 1944

Sowjetische Besatzungszone als Transit- und Aufnahmegebiet 

Aufgrund der geographischen Lage waren in der Sowjetische Besatzungszone (SBZ) die meisten Flüchtlinge und Vertriebenen gestrandet. 1946/47 stellten sie nahezu ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Manche flüchteten später in eine westliche Besatzungszone. 

Die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) bezeichnete die Flüchtlinge als „Umsiedler“. Ein Begriff der fälschlicherweise suggeriert, dass keine völkerrechtswidrigen Vertreibungen stattgefunden hätten. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass die Betroffenen auf freiwilliger Basis umsiedeln wollten. Das Gegenteil war aber der Fall. Die Truppen der Roten Armee hatten das private Eigentum der Ost- und Sudetendeutschen ohne Entschädigung konfisziert und sie anschließend aus ihrer Heimat vertrieben. 

Mit frühen Hilfsmaßnahmen wollte die sowjetische Besatzungsmacht die Eingliederung der Neubürger erleichtern. Die Bodenreform von 1945/46 und das Neubauernprogramm von 1947 stellten erste Anstrengungen zur Umverteilung von Grund und Boden dar. Bereits im Herbst 1946 hatte die SMAD zudem eine einmalige finanzielle „Umsiedlerunterstützung“ angeordnet.  

Flucht der „Umsiedler“ aus der Sowjetischen Besatzungszone 

Der Einfluss der russischen Armee prägte auch das Leben der Einheimischen. Wie meine Oma im Brief an ihre Mutter verdeutlicht, standen sie ebenfalls vor gewaltigen Herausforderungen: 

„Du kannst dir kein Bild machen, was hier los ist. Die Bauern haben ein sehr schweres Los zu tragen. Diejenigen, welche ihrer vorgeschriebenen Ablieferung in Vieh, Getreide, Gemüse und Milch nicht vollständig nachkommen können, bekommen keine Butter, dürfen kein Schwein schlachten und kein Getreide mahlen lassen. In unserem Dorf ist es keinem Bauern möglich, das Ablieferungssoll voll und ganz zu erfüllen. Also, kannst dir denken, was hier los ist.“ 

Tausende verließen deshalb noch vor Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) im Jahr 1949 die SBZ in Richtung West-Berlin oder Westdeutschland, ohne sich abzumelden oder eine Genehmigung einzuholen. Dort erhofften sie sich ein besseres Leben. 

„Ich bin nur froh, und ihr könnt es auch sein, dass ihr in die amerikanische Zone gekommen seid. Man hört doch immer wieder, dass es dort nicht so streng sein soll.“  

Getrieben von diesem Gedanken und dem Wunsch ihre Familie nach so langer Zeit wiederzusehen, hatte auch meine Oma den Entschluss gefasst, aus der SBZ zu flüchten. Irgendwann Ende 1946/ Anfang 1947 überquerte sie gemeinsam mit meinem Opa die thüringisch-hessische Grenze. Auf ihrer Flucht hatten sie einige Hürden zu überwinden. Um von den russischen Besatzern nicht entdeckt zu werden, hatten sie sich zum Beispiel in einem Graben verstecken müssen. Am Ende aber waren sie angekommen und fanden in Hessen ein neues Zuhause. 

Elvira Aloisia und Erich Giolbas

In Deutschland sind viele Millionen von Biografien, so wie meine, von einem Flüchtlingsschicksal geprägt. Rund 14 Millionen Deutsche waren zwischen 1944 und 1950 betroffenen von der Vertreibung aus den ehemaligen Ostgebieten. Die Massen an Heimatvertriebenen in das geteilte Deutschland zu integrieren, zählte zu den großen kulturellen und sozialen Heraufforderungen der Nachkriegszeit. Vertreibung und Flucht haben in der deutschen Gesellschaft tiefe Spuren hinterlassen.

Quellen:  

https://www.ausstellung-angekommen.de/ankunft

https://www.br.de/nachricht/inhalt/kriegsende-bayern-heimatvertriebene-100.html

https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/238108/fluechtlinge-und-vertriebene-im-nachkriegsdeutschland

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